Mit einem Klick im Warenkorb verschwinden
Am Strand von Enden türmen sich angespülte Bildschirme, Neonröhren, Handys und Küchengeräte; dazwischen ein gestrandeter Blauwal, der an einem Kühlschrank erstickt ist. Nachts versinken Rehe auf Nahrungssuche im Elektroschrott, während dröhnende Fata-Morgana-Maschinen Endlos-Werbeschleifen direkt in den Himmel projizieren und das Brummen von Kampfjet an nicht allzu ferne Kriege erinnert.
Das postapokalyptische Setting, das Rudi Nuss für seinen Debütroman „Die Realität kommt“ gewählt hat, ist unwirtlich. Deshalb flüchten seine Figuren lieber in eine virtuelle Umgebung namens „Avalon“, durch die sie sich so selbstverständlich bewegen wie durch die „erste Realität“. Wobei auch die VR, seit sie nicht mehr gewartet wird, Gefahren birgt: „die Bugs, die wahnhaften Algorithmen und die wilden Codeschichten nördlich der extremen Ausdehnung der Leere.“ Oder auch ein inaktiver Online-Shop, dessen „Kaufen“-Button man tunlichst umgehen sollte, „um nicht mit einem falschen Klick in einem Warenkorb ohne Boden zu verschwinden”.
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Für Rudi Nuss, 1994 in Berlin geboren, sind diese Szenarien allerdings keineswegs nur dystopisch. Abgesehen von einem veritablen Feuerwerk an skurrilen Ideen, bietet der Zusammenbruch alter (Denk-)Systeme die perfekte Folie für allerlei Schlupflöcher und Möglichkeitsräume, um neue Identitäten und alternative Formen der Gemeinschaft auszuprobieren. So lebt die genderfluide Ich-Erzählerin Conny mit dem schwulen Paar Wolfgang und Nikita in einem Container auf einem Schrottplatz nahe des fiktiven Küstenstädtchens Enden. Ihrem „Love Interest“ Marlo wiederum begegnet Conny an der Bar eines heruntergekommenen Hotels in Avalon, in Form eines ausgestorbenen Riesenvogels. Und Wolfgang, der in der „ersten Realität“ an einer seltenen Stoffwechselerkrankung leidet und sich kaum von der Couch bewegen kann, jagt in Avalon in Gestalt eines Rudels metallisch glänzender Kojoten durch die virtuellen Wälder.
Wirklichkeit mutiert permanent
Die permanent mutierende Wirklichkeit mit ihren ebenso rasch wandelbaren Identitäten mag manche Leser:innen zunächst überfordern. Doch die Überstimulation ist bei Nuss Programm. Am besten, man lässt sich einfach treiben durch dieses mal nachdenklich-melancholische, mal trashig-absurde Gebilde, angesiedelt irgendwo zwischen Computerspiel, surrealer Traumprosa, Fanfiction und philosophischem Essay.
Eine Art Plot gibt es auch, oder zumindest eine Mission, die Nuss’ Figuren zu erfüllen haben: Conny und ihre Freunde suchen in den Tiefen von Avalon die verschollen geglaubte Kopie einer utopischen VR, mit deren Hilfe sie die Welt vor einer Sekte namens „die neue Immersion“ retten wollen.
Dieser zugegeben ziemlich an den Haaren herbeigezogene Quest dient allerdings – wie in jedem guten Game – vor allem dazu, en passant allerlei tiefgründige Fragen zu den Themenkomplexen Identität, Herkunft, (alternative) Geschichtsschreibung, Wahrnehmung und Gedächtnis aufzuwerfen. Oder, auf der Meta-Ebene, zur Fragilität des menschlichen Lebens schlechthin. So zitiert Conny an einer Stelle zwei depressive Geologen aus dem (fiktiven) Horrorfilm „Schrecken in der Erdkruste“, in dem sie sinnieren, „dass einige Kilometer über uns und unter uns der Tod lauert und alle Kreaturen dieses Planeten bloß auf eine fast schon verschwindenden Dünnheit wandeln“.
Das macht Spaß
Abgesehen davon macht vieles, was Rudi Nuss in seinem Roman zusammen fabuliert, einfach riesigen Spaß: Die ikonischen Science-Fiction-Setting, die exzentrischen Nebenfiguren, und nicht zuletzt die schier unerschöpfliche Fülle an hintersinnig-makabren Details.
So erblickt eine sterbende Figur nach allen tiefschürfenden Überlegungen zur eigenen Vergänglichkeit – am Ende des Tunnels nicht etwa ein göttliches Licht, sondern eine nervige Pop-up-Ad für ein Onlinecasino, die sie mit letzter Kraft wegzuklicken versucht.
Rudi Nuss: Die Realität kommt. Roman, Diaphanes-Verlag, Zürich 2022. 248 Seiten, 22,50 €.