Wenn statt Auslandssemester die Chemotherapie wartet

“Ich trug die größte Kindergröße, war 24 Jahre alt und fühlte mich zu allem bereit, zum ersten Mal.“ Gerade war Sebastian einige Tage bei seiner besten Freundin Su in Paris, hat Adrien kennengelernt und ist nun auf dem Weg zurück nach Gießen, wo er Germanistik studiert, im zweiten Anlauf. Aber vielleicht sollte er lieber nach Barcelona gehen oder Wien für ein Semester? Oder das Studium besser abbrechen?

Mit dem Lebensgefühl des Mittzwanzigers wähnt er die ganze Welt für sich offen, auf unbegrenzte Zeit. Doch in Gießen, dieser „hässlichen hessischen Stadt“ erwartet ihn eine schockierende Nachricht. Der schon länger bestehende stechende Schmerz unterm Brustbein stammt nicht von einer dritten Niere, wie sein Hausarzt angenommen hat, sondern von einem Tumor. Faustgroß.

Krebsgeschichten haben sich in den letzten Jahrzehnten als eigenes literarisches Genre etabliert und je nach Gestimmtheit und Vermögen der Autori:nnen Dramen oder unterkühlte Reporte, im besten Fall gute Literatur hervorgebracht. Schreiben scheint in dieser existenziellen Ausnahmesituation nach wie vor eine adäquate therapeutische Bewältigungsstrategie.

Doch als Erfahrungsbericht will der bislang als Dramatiker und Schauspieler hervorgetretene Stefan Hornbach seinen Debütroman nicht verstanden wissen – auch wenn seine Stücke häufig um das Thema Tod kreisen. Zwar ist dem 1986 in Speyer geborenen Autor vor neun Jahren Ähnliches wiederfahren wie Sebastian in „Den Hund überleben“. Doch „meine Figuren machen andere Sachen“, so Hornbach in einem Interview. Vieles, erklärte er darin, sei verfremdet.

Sein Protagonist Sebastian wird nach der Diagnose von widerstreitenden Gefühlen beherrscht: Dem ersten Schock folgt der Groll gegen den Arzt, durch dessen falsche Diagnose wertvolle Zeit verstrichen ist. Zunächst zieht Sebastian aus seiner WG aus und zurück in sein altes Kinderzimmer in der Neubausiedlung im pfälzischen Mutterstadt, wo seine Eltern wohnen.

Mit jedem Zyklus verändert sich die Körperwahrnehmung

Er will „unbedingt ein guter Patient“ sein, der „alles richtig“ macht, und überlässt sich der nun der anlaufenden Maschinerie: Untersuchungen, Differentialdiagnose, schließlich eine mehrmonatigen Chemotherapie, die das Non-Hodgin-Lymphom zum Stillstand bringen soll. „Ich sterbe nicht, okay?“, beruhigt er nach der ersten Operation seine Mutter, die vermutet, der atomare Fallout nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl könnte den Fötus, mit dem sie schwanger war, geschädigt haben. Die Rückkehr ins Elternhaus erlebt Sebastian als zwiespältig.

[Stefan Hornbach: Den Hund überleben. Roman. Hanser Verlag, München 2021. 288 Seiten, 22 €.]

Wie umgehen mit Eltern, die sich ständig bemühen, ihre Angst zu verbergen? Mit der tapferen Mutter, mit der ihn nun ein „Rettungs- und Notfallmodus“ verbindet und die ihn überall hin begleitet? Wie mit Jasna, einer Freundin aus Kindertagen, die ihn mit obskuren Therapievorschlägen und ihrem „positive thinking“ traktiert? Der neuen Liebe Linus unter dem Damoklesschwert von Krankheit und beeinträchtigtem Befinden? Und was hat er von einer Ärztin zu halten, die ihm prophezeit, „wir werden das nächste halbe Jahr miteinander verheiratet sein.“

Immer weniger fühlt sich Sebastian in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, ersinnt ein System von geraden und ungeraden Zahlen, die ihm dabei helfen. Am einfachsten ist noch der Umgang mit dem alten Hund, der nichts von ihm erwartet. Zu seinem Tumor hingegen, zu dem sich noch zwei weitere gesellt haben, unterhält er eine intime Beziehung. Seit der Diagnose sind die Gewächse zu „Körpern von Gewicht“ geworden, er gibt ihnen Namen, spricht sie an, fordert sie auf „auszuziehen“.

Mit jedem Zyklus verändert sich die Körperwahrnehmung: „Ich legte mir Schutzschichten zu, die mir Geschichten erzählten. In Gedanken ließ ich meine Haut mit kühlem Moos bewachsen, etwas später überzog mich ein öliger Film, wie Teer, dick trug ich ihn auf.“ Das Auf und Ab von Chemo und Behandlungsfolgen wird immer zermürbender, die Unsicherheit, ob die Therapie anschlägt, die Angst vor Infektionen, das Warten und die nicht vollendete Zukunft: „Am Ende hatte ich doch glücklich gewesen sein wollen, zumindest hatte ich nicht verschwinden wollen, ohne irgendeinen Eindruck in der Welt hinterlassen zu haben.“

Leise Kritik am Gesundmachungssystem

Immer knapper werden die oft mehrdeutig betitelten Kapitel, als ob der Hoffnungsfaden kürzer würde und die Schreibenergie versiege. Geprägt sind sie von Sebastians minutiösen Beschreibungen, seinem registrierenden Blick gegen die Angst, egal, ob es sich um die gut eingespielten Abläufe im Krankenhaus handelt oder um die Selbstwahrnehmung im Liebesakt. Die zeitlich und geografisch genaue Verortung und die medizinischen Details lassen an eine Reportage denken. Doch Hornbach, der das Schreiben am Literaturinstitut Leipzig gelernt hat, weiß, was er der Romanform schuldig ist, auch wenn sie hier strikt chronologisch bleibt.

Dass es sein Protagonist – im Unterschied zu manchen Nebenfiguren – allerdings an Kontur vermissen lässt und als blasser Berichterstatter seiner selbst wirkt, ist möglicherweise auf die angestrebte autobiografische Distanz zurückzuführen und der gewollten Coolness der Krankheit gegenüber.

Obwohl das Ende offenbleibt, schlägt der Autor nie einen klagenden Ton an, er bleibt kühl-ironisch, selbst die leise Kritik am Gesundmachungssystem wirkt zurückgenommen. An der „militärischen Übertreibung“ der Krankheit, von der Susan Sontag in ihrem berühmten Essay spricht und die Hornbach eingangs als Motto zitiert, ist er jedenfalls nicht interessiert. Es genügt schon, dass er den Hund überlebt hat, auch wenn das unbeschwerte „Davor“ nie wieder kommen wird.