Eine Berlinerin und ein russischer Dissident
Abseits vom Festivaltrubel existiert in Cannes tagsüber noch eine Parallelwelt, in die es einen Journalisten selten verschlägt. Es sind die Empfänge in den zahlreichen Strandbars an der Croisette, in denen die Produktionsfirmen ihre Premieren feiern, manchmal auch unabhängig von den Kritiken – weswegen die Presse zu diesen Anlässen auch selten eingeladen wird.
Partys im herkömmlichen Sinne sind diese Häppchenverköstigungsevents nicht, aber wer das Cannes-Feeling auskosten möchte, sollte mindestens einmal – zum Beispiel bei der Premierenfeier des koreanischen Actionfilms „The Hunt“ mit „Squid Game“-Star Lee Jung-jae – mit einem Glas Rosé im Meer stehen. (Die legendären Cannes-Partys finden bekanntlich in Hotelzimmern statt, doch darüber herrscht in der Branche eine Omertà.)
Emily Atef ist in der Reihe Un Certain Regard vertreten
Das südkoreanische Kino knüpft langsam wieder an den Vor-Pandemie-Boom an, ausgelöst durch den Erfolg vom Palmen-Gewinner „Parasite“. Mit zwei Filmen allein im Wettbewerb, darunter „Broker“ vom japanischen Regiemeister Hirokazu Kore-eda (seine zweite internationale Produktion), steht die viertgrößte Kinoindustrie in diesem Jahr wieder glänzend da.
Davon kann die deutsche Filmbranche nur träumen, auch wenn gelegentlich die Logos der üblichen Förderanstalten über die Leinwand rollen. Wer gehofft hatte, dass die hemmungslose Liebe, die man hier 2016 über Maren Ades „Toni Erdmann“ ausschüttete, Früchte getragen hat, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder enttäuscht.
Dieses Mal ist immerhin die Berliner Regisseurin Emily Atef in der Reihe Un Certain Regard – gewissermaßen der kleine Wettbewerb – an der Croisette vertreten. Und ihr Film „Mehr denn je“ („Plus que jamais“) ist nach dem Romy-Schneider-Biopic „3 Tage in Quiberon“ erneut ein Ausweis ihrer frankophilen Sensibilität.
In Cannes, wo auch die Berliner Schule ihre größten Erfolge feierte, trifft das natürlich einen Nerv, zumal der im Januar tödlich verunglückte Gaspard Ulliel in seiner letzten Rolle zu sehen ist. Rund um das Festival wird dieser Tage an den vielseitigsten (und bestaussehenden) französischen Schauspieler seiner Generation erinnert. In „Mehr denn je“ zeigt er an der Seite von Vicky Krieps noch einmal sein ganzes Können.
Krieps spielt die Architektin Hélène, die an einer unheilbaren Lungenkrankheit leidet. Ihr Mann Mathieu (Ulliel) und ihre Freunde scheinen mit dieser Diagnose schlechter umgehen zu können als die Erkrankte selbst, die um sich herum eine emotionale Mauer errichtet.
Die Ohnmacht angesichts eines viel zu kurzen Lebens, die Wut auf sich selbst, dem Menschen, den sie über alles liebt, diesen Schmerz zuzufügen, und die Angst vor einer qualvollen Langzeitbehandlung ohne Happyend lösen bei Hélène einen Rückzugsreflex aus.
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Im Internet lernt sie einen älteren Mann (Bjørn Floberg) kennen, der aus seiner Hütte an einem Fjord über seine eigene Krankengeschichte bloggt; die beide beginnen eine Korrespondenz. Als Hélène einen Wartelistenplatz für eine Lungentransplantation erhält, bittet sie Mathieu um Bedenkzeit – und reist nach Norwegen.
Krieps spielt die Rolle der Hélène, die man im Kino schon oft gesehen hat, mit dieser ihrem Spiel so eigenen Durchlässigkeit, die viel Raum für Interpretation lässt. Es ist genau dieses Sich-Entziehen, an dem Mathieu verzweifelt. So vermeidet „Mehr denn je“ die übliche Gefühlsduselei des Krankendramas und öffnet (durch Hélène) seine Wahrnehmung: für die Natur und die Berge, was ebenfalls leicht als Klischee hätte enden können. Stattdessen entwickelt sich die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau, die bis in den Tod selbst über ihren Körper entscheiden will. Emily Atef tut dabei nicht mehr, als Krieps alle Freiheiten zu geben. Und das ist ihr hoch anzurechnen.
2021 musste Kirill Serebrennikow der Cannes-Premiere seines halluzinösen Historiendramas „Petrov’s Flu“ wegen eines Hausarrests noch fernbleiben. In diesem Jahr ist der der russische Regisseur und Dissident, von denen es ja gerade nicht genug geben kann, wieder persönlich vor Ort. In dieser spürbaren Erleichterung ist sogar sein Film „Tchaikovsky’s Wife“ ein wenig in den Hintergrund geraten: ein interessanter, allerdings auch langatmiger Versuch eines Gegenentwurfs zum Geniekult um den Staatskünstler.
Antonina Miliukova (Alyona Mikhailova) spielt die offizielle Ehefrau des schwulen Komponisten, die – mehr obsessiv denn aus Liebe – für ihren Platz in der großen Künstlerbiografie kämpft. Serebrennikows Demontage ist wohldosiert und stets an der Grenze zum Melodrama. Wer ein politisches Statement erwartet hat, muss im Kaffeesatz lesen. Momentan gilt es wohl, seine Rückkehr ins Weltkino zu feiern.