„Bones and All“ in Kino: Die Sehnsucht, einfach Mensch zu sein

Der Mittlere Westen ist eine mythische Landschaft in der amerikanischen Geschichte. Von hier wurde die frontier, die Besiedelung des Landes, immer weiter in Richtung Pazifikküste vorangetrieben. Die Staaten Ohio, Missouri und Nebraska gehören zum sogenannten heartland, und hier schlägt auch das Herz Amerikas. Das wird zum Beispiel im US-Wahlkampf immer dann wichtig, wenn um die Stimmen der „einfachen Leute“ gebuhlt wird.

Das wahre Amerika lernt man am besten im Auto kennen

Das „weite Land“ zwischen den Metropolen hat inzwischen noch einen weniger schmeichelhaften Namen: das fly-over country, das man bevorzugt im Flugzeug überquert. Aber auch das ist eine Lektion der Trump-Jahre: Das wahre Amerika lernt man am besten im Auto kennen, mit Zwischenstopps an Ortschaften, in deren Namen die Siedler aus Europa und die größtenteils ausgelöschte First Nation ihre Spuren hinterlassen haben. Auch darum wurden Roadmovie und Western zu zwei zentralen Genres in den revolutionären Jahren Hollywoods in den 1970ern.

Dieses Herzland ist in „Bones and All“, dem neuen Film des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino, doppelt konnotiert. Europäer, die in Amerika drehen, zeichnen von diesem Land ja gern ein verklärtes Bild, es geht in Filmen wie „Paris Texas“ (Wim Wenders) oder „American Honey“ (Andrea Arnold) immer auch um eigene Projektionen. Guadagnino hakt die Stationen dieses Übergangsritus’ – in Form des Roadmovies wie auch der Coming-of-Age-Romanze – eher beiläufig ab, die offiziellen Kürzel der Bundesstaaten werden eingeblendet. Um Amerika geht es in „Bones and All“ nur am Rande, trotzdem hat es eine tiefere Bewandtnis, dass er das Jugendbuch von Camille DeAngelis in die späten 1980er, die letzten Krisenjahre der Reagan-Ära, verlegt hat.

Es ist eine Zeit der Zerwürfnisse, die der filmhistorisch versierte Guadagnino hier zitiert. Unwillkürlich denkt man an Terrence Malicks pessimistische Gangsterballade „Badlands“, die den Mittleren Westen auf die Landkarte von New Hollywood setzte.

Aber in den verlassenen Landstrichen und Kleinstädten, die die 18-jährige Maren (Taylor Russell) und der etwas ältere Ausreißer Lee (Timothée Chalamet) mit geklauten Wagen abklappern, ist von den Versprechen der Reagan-Jahre nichts mehr geblieben. Die eintönige Landschaft fängt der belarussische Kameramann Arseni Khachaturan gerade spezifisch genug ein, um seinen Bildern eine dystopische Stimmung zu verleihen – als Hintergrund, von dem sich die Freundschaft zweier orientierungsloser Jugendlicher wie ein kleines Wunder abhebt.

Auf ihrer Reise begegnet Maren (Taylor Russell) dem mysteriösen Sully (Mark Rylance).
Auf ihrer Reise begegnet Maren (Taylor Russell) dem mysteriösen Sully (Mark Rylance).
© Foto: Yannis Drakoulidis / Metro Goldwyn Mayer Pictures

Aber das Herzland hat in „Bones and All“ noch eine andere, im buchstäblichen Sinn blutige Bedeutung. Und wie mühelos diese beiden Aspekte zueinander finden, ohne sich gegenseitig abzustoßen, spricht für den Regisseur der schwulen Coming-of-Age-Geschichte „Call Me by Your Name“ und des okkulten Bodyhorror-Films „Suspiria“. Maren und Lee gehören zu einer Spezies von Kannibalen, die dieses Amerika auf der Suche nach Nahrung durchstreifen. Ihre Opfer finden sie am Rande der Gesellschaft: Menschen wie sie, deren Existenz und Verschwinden niemand bemerkt; die selbst im (natürlichen) Tod anonym bleiben.

Auf der Tonspur knacken die Knochen

Lee schlägt sich auf diese Weise schon seit Jahren durch, bei seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester schaut er gelegentlich noch vorbei. Maren hingegen wurde gerade von ihrem Vater (André Holland) zurückgelassen, weil er die blutigen Spuren seiner Tochter nicht länger vertuschen konnte. Das Mädchen hat seine Veranlagung von der Mutter (Chloë Sevigny) geerbt, die das Ziel ihres Roadtrips ist. Unterwegs führt Lee die unerfahrene Maren in das Leben als Kannibalin ein, ihr erstes gemeinsames Opfer „reißt“ er für sie in einem Feld: Die Blutfontäne hebt sich lyrisch im Halbdunkel ab. Das blubbernde Gurgeln der Halsschlagader erzeugt bei Maren ein ausgehungertes Erschauern zwischen Lust und Gier.

Trotzdem ist in Guadagninos Liebesgeschichte nie eine spekulative Freude an der Grenzüberschreitung spürbar. Der Kameraschwenk auf ein Arrangement von Familienbildern, auf denen das Opfer zu sehen ist (während auf der Tonspur Knochen knacken), vergegenwärtigen selbst im Moment des Todes die moralische Dimension ihrer Tat. Objekte wie Fotografien oder der Walkman, auf dem Maren eine lange Abschiedsnachricht ihres Vaters hört, rufen immer wieder in Erinnerung, dass ihr Überlebensinstinkt Anderen das Leben kostet.

Das weite Land: Lee (Timothée Chalamet) und Maren (Taylor Russell) durchstreifen den Mittleren Westen.
Das weite Land: Lee (Timothée Chalamet) und Maren (Taylor Russell) durchstreifen den Mittleren Westen.
© Foto: Yannis Drakoulidis / Metro Goldwyn Mayer Pictures

Kannibalismus ist eine krasse Metapher für das Gefühl der Entfremdung – ob eine soziale, politische oder ökonomische. Aber die Gewalt wirkt in „Bones and All“ selbst dort, wo ihre Darstellung realistisch und drastisch ist, nie selbstzweckhaft. (Es gibt in „Bones and All“ allerdings auch Menschen, deren Ende Schadenfreude auslöst.)

Dass die Anthropophagie auch eine gesellschaftliche Disposition beschreibt, wird in den Szenen deutlich, in denen Lee und Maren Gleichgesinnten begegnen. Der Einzelgänger Sully (Mark Rylance), eine dandyhafte Figur mit Federhut, spricht von sich in der dritten Person und entwickelt eine ungesunde Fixierung auf Maren. Und beim Campen lernen sie ein Kannibalenpärchen (Michael Stuhlbarg und der Regisseur David Gordon Green) kennen, das sich ohne moralischen Kodex unter den Menschen bewegt. Aus ihren jovialen Lagerfeuer-Bekenntnissen spricht der Sozialdarwinismus der Reagan-Jahre, Proto-„American Psycho“.

Dass „Bones and All“ trotz allem zuerst ein Coming-of-Age-Film mit einer zärtlichen Fürsorge für seine Figuren ist, kann man Guadagnino nicht hoch genug anrechnen. Als Referenz dienen weniger seine Filme, als vielmehr die Miniserie „We Are Who We Are“ über die Sinnsuche einer Gruppe Army-Kids auf einer US-Basis in Italien. Mit seinem intuitiven Verständnis für ihre noch unformulierten Sehnsüchte gibt Guadagnino seinen jugendlichen Figuren Raum zur Entfaltung, ohne dass es klingt, als versuche ein Erwachsener eine ihm fremde Welt zu verstehen.

(Ab Donnerstag in 12 Berliner Kinos)

In „Bones and All“ bringt Taylor Russell diese Zweifel und Ängste in ihrer leicht defensiven Körpersprache und ihrer verletzlichen Mimik herzzerreißend zum Ausdruck. Auf dem Festival von Venedig wurde sie mit dem Nachwuchs-Preis ausgezeichnet, während Guadagnino den Regie-Löwen erhielt. Kann man sich zwei schönere Auszeichnungen vorstellen, um zu würdigen, dass es gerade kaum einen besseren Regisseur für jugendliche Darsteller:innen als Guadagnino gibt? Chalamet, sein Star aus „Call Me by Your Name“, spielt neben Russell – seiner Figur nicht unähnlich – bereits abgezockt wie ein Mentor den coolen Skater mit zerrissenen Jeans und einem Faible für Hardrock, an dem sich die sensiblere Maren so lange reiben kann, bis sie ihre eine eigene Identität gefunden hat.

Das Coming-of-Age ist in „Bones and All“ nicht mit einem sexuellen Erwachen gleichzusetzen, in Reagans Amerika muss man das Aufwachsen noch grundsätzlicher verstehen. „Lass uns für eine Weile einfach ,Mensch’ sein“, sagt Maren am Ende zu Lee. Und dabei überblicken sie die Weite der Prärie, auf der 150 Jahre zuvor noch die Büffel grasten.

Zur Startseite