Selber machen, nicht nur importieren!
Noch liegen die Säle der kommerziellen Musicaltheater leer und verlassen da, aber im Spätherbst soll es wieder losgehen mit den Shows. Dann kehren die Dauerbrenner auf die Bühnen zurück, „Der König der Löwen“ und „Wicked“, „Mamma mia“ oder auch „Tanz der Vampire“. Wer mit musikalischer Bühnenunterhaltung Geld verdienen will, muss die breite Masse des Publikums erreichen – und geht darum auf Nummer sicher, mit Importen vom New Yorker Broadway und dem Londoner West End. Stage Entertainment, der Marktführer in Deutschland, kündigt die deutsche Erstaufführung von „Hamilton“ an, der schärfste Konkurrent Mehr BB Entertainment holt Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Theaterstück nach Hamburg.
An den deutschen Stadttheatern dagegen werden vor allem die Musical-Klassiker gespielt, „My Fair Lady“, „Cabaret“, „Rocky Horror Show“, „Anatevka“ oder „Im weißen Rössl“. Muss das wirklich so sein?, fragte sich die Intendantin der Luisenburg-Festspiele, Birgit Simmler, und holte vor drei Jahren erstmals Akteure sowohl der staatlich finanzierten Bühnen wie der profitorientierten Musicalanbieter an einen Tisch, um über Zukunftsperspektiven für das Genre zu diskutieren.
In Wunsiedel werden keine US-Importe gezeigt
Jetzt fand das Branchentreffen bereits zum dritten Mal statt – und in Wunsiedel in der oberfränkischen Provinz, wo auf der riesigen Felsenbühne der Luisenburg-Festspiele seit 2004 neben Schauspiel immer auch Musical gezeigt wird, waren die ersten Ergebnisse der Initiative zu sehen.
Zum Beispiel die Musiktheaterversion von Umberto Ecos Kultroman „Der Name der Rose“, die ursprünglich von einem norwegischen Kreativteam für das Theater Erfurt geschrieben wurde, und die Birgit Simmler dann für die Bedürfnisse ihrer Spielstätte weiterentwickelt hat, zeitlich gestrafft und mit einer Band statt einem Sinfonieorchester an der Seite der reduzierten Solistentruppe. Im kommenden Jahr wird es ein „Pinocchio“-Musical geben, das ursprünglich in Italien uraufgeführt wurde, in Planung ist auch die deutsche Erstaufführung eines Stücks, das in Barcelona während der Franco-Diktatur spielt.
„Die heutige Zweiteilung des Musicalmarkts in staatliche und kommerzielle Anbieter ist auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückzuführen“, erklärt die Intendantin im Gespräch. „Die kreativen Köpfe der Unterhaltungsbranche wurden nach 1933 systematisch aus Deutschland vertrieben – und kamen nach dem Krieg nicht zurück.
In Deutschland fehlten lange Musical-Fachleute
Das Stadttheatersystem in der DDR wie der Bundesrepublik wurde in der klassischen Tradition wieder aufgebaut, mit Schwerpunkten auf Schauspiel, Ballett und Oper.“ Zwar gab es immer wieder Versuche, Musicalerfolge aus dem englischsprachigen Raum nachzuspielen, aber die Häuser verfügten nicht über die eigentlich nötigen Spezialisten, die sowohl als Sänger und Tänzer wie auch als Darsteller ausgebildet sind.
Der deutsche Musical-Boom, der 1983 mit dem Import von Andrew Lloyd-Webbers „Cats“ begann, fand dann außerhalb der staatlichen Institutionen statt, nämlich in extra errichteten Bühnen, die von kommerziellen Unternehmen betrieben werden. Rein wirtschaftlich gesehen funktioniert das Prinzip, Klon-Produktionen von erfolgreichen Shows aus New York und London nachzuspielen, gut. Doch künstlerische Impulse konnten von der neuen Unterhaltungsbranche kaum ausgehen – weil das deutsche Theatersystem keine Kunstproduktion mit Risikokapital zulässt. In den USA gibt es jede Menge private Investoren, die auf den Erfolg eines Showprojekts setzen, und einkalkulieren, dass im Misserfolgsfall ihr Geld weg ist. Die finden sich hierzulande aber nicht.
Für die Innovationsförderung der Bühnen ist in Deutschland allein der Staat zuständig. Zwar entstehen an den kleinen und mittleren Theatern darum auch immer wieder neue Musicals, doch die bleiben meist regionale Ereignisse. Hier will Brigit Simmler ansetzen: Wenn sich mehrere Akteure von vornherein zu einer Kooperationsgemeinschaft zusammenschließen, sagt sie, sinken für jeden einzelnen die Produktionskosten – und die Autoren profitieren gleichzeitig von höheren Tantiemen, wenn ihre Stücke an mehreren Orten gezeigt werden. „Natürlich generiert eine Uraufführung viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit als das Nachspielen eines neuen Werkes“, räumt die Intendantin ein. „Doch diejenigen, die als Zweiter oder Dritter an der Reihe sind, profitieren davon, dass die Stücke von Station zu Station optimiert werden können.“ Wenn szenische Durchhänger gestrafft, wenig zündende Musiknummern ersetzt und Dialoge nachgeschliffen werden, entsteht ein Mehrwert. Was in Heilbronn gut gestartet ist, kann in Fürth besser werden und in Schwedt dann spitze sein.
Es braucht Orte zum Ausprobieren
Und Birgit Simmler hat noch eine Idee: Warum, fragt sie, sollten die großen kommerziellen Anbieter nicht mit den Stadttheatern und den regionalen Festivals zusammenarbeiten, um neue Stücke auszuprobieren? In den USA finden die Tryouts außerhalb von New York statt, Novitäten werden erst in Boston oder Los Angeles live getestet, bevor sie in einer optimierten Version an den Broadway kommen.
Sie würde ihre Felsenbühne in Wunsiedel jedenfalls gerne für „Workshopinszenierungen“ neu entwickelter Stoffe zur Verfügung stellen oder auch, um die Publikumswirksamkeit einer deutschen Übersetzung auszutesten. Weil Musicals so aufwändig sind, lohnt es sich für alle Beteiligten, darüber nachzudenken, inwieweit sich die amerikanischen Arbeitsmethoden zumindest teilweise auf die gewachsenen deutschen Strukturen adaptieren lassen, um Synergien zu schaffen.
Bei den drei Branchen-Symposien, die sie organisiert hat, war Birgit Simmler stets begeistert von der Offenheit, mit der sich die Vertreter der kommerziellen Musicalanbieter und die Akteure aus dem Stadttheaterbereich begegnet sind. Jenseits der Insiderkreise allerdings, in der Politik beispielweise, stoße sie immer wieder auf Vorurteile, berichtet die Intendantin. Im Vergleich mit dem Schauspiel werde das Musical von vielen Menschen weiterhin als minderwertig betrachtet. Simmler, die selbst studierte Literaturwissenschaftlerin ist, findet das ungerechtfertigt: „Für mich sind beide Genres gleichwertig.“