Emanzipation mit scharfen Kanten

Manchmal beginnen Revolutionen nicht mit Gewehren, sondern mit einer Schere. Als nach dem Ersten Weltkrieg Frauen auf der ganzen Welt sich ihre Haare kurz schneiden ließen, war das eine Befreiung, die wie ein Kulturschock wirkte. In Deutschland wurde die Mode Buben-, abgekürzt Bubikopf genannt, in Frankreich hieß sie Garçonne, in Großbritannien und den USA sprach man vom Bob oder Shingle. Der Haarschnitt, in dem sich ein neues weibliches Selbstbewusstsein ausdrückte, löste erregte Debatten aus, er wurde gefeiert, verspottet und bekämpft. Kirchenmänner verkündeten von der Kanzel, er verstoße „wider Gottes Gebote“, den Nationalsozialisten galt er als „undeutsch“, und konservativ gesinnte Turnvereine verboten ihn ihren weiblichen Mitgliedern. Die Begründung lautete: „Arisch ist der Zopf, jüdisch ist der Bubikopf.“

Die Kurzhaarfrisur sprengte Traditionen, das machte sie anrüchig. Nicht allein der Bubikopf brachte die Gemüter auf, er verband sich mit einem Kleidungsstil, der Geschlechtergrenzen überwand. Die „Neue Frauen“ – in Japan wurden sie moga, in Indien kallege ladki, in China modeng xiaojie, in Mexiko pelonas und in Amerika flappers genannt – traten in der Öffentlichkeit gerne auch in Hosen oder mit einem Monokel auf, männlich geprägten Kleidungsstücken, und betonten eine schlanke, gradlinige Silhouette.

Die Mode riss Geschlechtergrenzen nieder

„Die Degradierung der Frau zum sexuellen Objekt, lief, wenn auch nicht ausschließlich, so doch nicht unwesentlich über die Haare und wertete Bubikopf-Trägerinnen als Frauen moralisch ab“, konstatiert Helga Lüdtke. Ihr Buch, in dem sich kulturgeschichtliche Akribie, soziologische Analyse und feministischer Impetus aufs Wunderbarste miteinander verbinden, ist die erste umfassende Veröffentlichung zum Phänomen.

Erfunden wurde der Bubikopf in Paris, dort erregte der aus Polen stammende Damenfriseur Antoni Cierplikowski, der sich Monsieur Antoine nannte, bereits 1909 mit einem Garçonne-Schnitt Aufsehen. Coiffeure verstanden sich nicht mehr als Handwerker, sie waren Künstler. 1924 entsandte das „Berliner 8 Uhr-Abendblatt“ einen Reporter zum Pariser Starfriseur Henri Lebarde, der sich bis zu 1000 Dollar für eine Frisur bezahlen ließ. Die Zeitung lobte die „schöpferischen Einfälle“ des Meisters sowie seine „tiefe Kenntnis der weiblichen Psyche“. Lebarde verstand den Bubikopf als Königsdisziplin seines Metiers, weil er ein „besonders gründliches Eingehen auf die Individualität der Frau“ verlange.

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In Berlin existierten keine Haarkünstler von vergleichbarer Prominenz. Dort war es Franz Zimmermann, der Oberfriseur des Staatstheaters, der für die Damenmode der kurzen Haare warb. Als er 1921 für die Schauspielerin Tilla Durieux eine rote Kurzhaar-Perücke für Frank Wedekinds Drama „Marquis von Keith“ anfertigte, waren Publikum und Presse begeistert. In der „Deutschen Allgemeinen Friseur-Zeitung“ forderte er seine Kollegen auf, das Onduliereisen zur Seite zu legen und sich den Finessen des Fassonschneidens zu widmen.

Backfische auf dem Kurfürstendamm

Noch throne, so Zimmermann, im Nacken der Knoten in üppiger Pracht, aber er könne über Nacht stürzen, „denn am Kurfürstendamm und auf der Tauentzienpromenade tauchen ständig mehr und mehr entzückende Backfische und elegante Damen mit dieser Frisur auf“. Viele junge Frauen kamen während der Weimarer Republik nach Berlin, um als Sekretärin, Verkäuferin oder Stenotypistin zu arbeiten. Der Lohn war nicht üppig, reichte aber zu einer gewissen Selbstständigkeit.

[Helga Lüdtke: Der Bubikopf. Männlicher Blick und weiblicher Eigen-Sinn. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 304 Seiten, 28 €]

Zur neuen Klasse der Angestellten passte eine neue, androgyne Mode. Ohne Schleppröcke und Faltenfahnen fühle sich die „Lady up to date“ lebendiger, befand die Journalistin Paula von Reznicek 1928 in ihrem Benimmratgeber „Die perfekte Dame“. Ein Sportkleid, ein herrenmäßig zugeschnittenes Kostüm oder eine Weste mit Krawatte verhalfen der modernen Frau zur Bewegungsfreiheit, „nicht übertrieben, nicht outriert – aber geeignet für ihre hastigen Schritte, ihr Achtzigkilometertempo“.

Lulu mit Pagenschnitt

Das „Vorwärts-kommen-Wollen“, so Lüdtke, wurde für viele Frauen zur Lebensmaxime. Die Schriftstellerin Ruth Landshoff-Yorck, die auf einem Foto rauchend mit Kurzhaarfrisur auf dem Trittbrett ihres Automobils hockt, mokierte sich in der Zeitschrift „Die Dame“ über die Ignoranz Berliner Verkehrspolizisten: „Sehr wenige begreifen, daß ein Mädchen mit ganz wenig PS viel schneller vorwärts kommen will als alle Jungen mit Mercedes oder 8-Zylinder-Bugattis“.

Kinostars halfen, den Bubikopf populär zu machen. Asta Nielsen trat 1921 in einer „Hamlet“-Verfilmung als Dänenprinz mit Bubikopf auf, Louise Brooks spielte 1929 die Femme fatale Lulu im Stummfilmklassiker „Die Büchse der Pandora“ mit kantigem Pagenschnitt. Bald darauf kamen Wasserwellen in Mode, die Haare wurden wieder länger. 1964 widmete der britische Friseur Vidal Sassoon dem Bubikopf mit seiner helmförmigen Kreation „The Five Point“ eine Hommage. Kurzhaarfrisuren sind einfach unverwüstlich.