Eine Rachefantasie in den schönsten Pastelltönen
„Ich bin ein netter Typ!“ Der Satz geht den Männern, denen Cassie auf ihren nächtlichen Streifzügen begegnet, leicht über die Lippen. Doch für eine betrunkene Frau nachts um zwei im Apartment eines fremden Mannes hat er eine bedrohliche Konnotation. Cassie lässt sich von diesen „netten Typen“ in Bars und Clubs aufreißen, sie führt über sie Buch – und ihr Notizheft füllt sich rasant. Eine betrunkene Frau im Club ist eine leichte Beute, das männliche Beuteschema ist allerdings auch nicht besonders originell.
Wenn Cassie schließlich, auf einen Schlag nüchtern, der Typ hat seinen Kopf bereits zwischen ihren Schenkeln, ihm ein scharfes „Ich habe nein gesagt“ entgegenzischt, ist es mit der Nettigkeit vorbei. Auch der Prozess der Rechtfertigung verläuft vorhersehbar, die Stadien lauten: Überraschung, Scham, Unschuldsbeteuerungen und dann Wut. Am Ende muss sich Cassie, verschmierter Lippenstift, eiskalter Blick, anhören, dass sie „psycho“ sei. Typischer Fall von victim blaming.
„Promising Young Woman“, das Regiedebüt der britischen Schauspielerin und Drehbuchautorin Emerald Fennell („The Crown“), ist ein komplizierter Hybrid aus Rape-Revenge-Drama und Romantic Comedy. Diese eigentlich unmögliche Konstellation erfordert viel Fingerspitzengefühl und eine gute Portion Unerschrockenheit.
Für ihr Drehbuch gewann Fennell gerade den Oscar, doch ohne Carey Mulligan in der Rolle Cassandras hätte „Promising Young Woman“ leicht bloß ein weiterer Exploitationfilm werden können. Weibliche Rachefilme waren in den Siebzigern ausschließlich Männerfantasien: Pam Grier in „Foxy Brown“, Camille Keaton in „Ich spucke auf dein Grab“, Zoë Lund in „Ms. 45“. Gaspar Noé gab dieser Ambivalenz mit „Irreversible“ einen unverhohlen misogynen Dreh.
Vertrauensvorschuss für junge Männer
Doch Fennell und Mulligan ersparen dem Publikum die Erniedrigung ihrer Frauenfigur. Die 30-jährige Cassie ist sogar ein äußerst unterhaltsamer Racheengel: Sie arbeitet im Coffeeshop von Gail („Orange Is the New Black“-Star Laverne Cox), trägt bevorzugt Pastelltöne, sie ist schlagfertig und spuckt einem übergriffigen Verehrer lächelnd in den Kaffee. Außerdem ist sie Zynikerin: „Wer braucht schon Grips“, meint sie einmal, „der hat Mädchen noch nie geholfen.“
Cassie lebt nach einem abgebrochenen Medizinstudium wieder bei den Eltern in einer anonymen Vorstadt in Ohio. Den Grund für ihren Rückzug gibt Fennell früh preis: Ihre beste Freundin Nina hat Suizid begangen, sie wurde von einem Kommilitonen vergewaltigt. Der Täter schloss cum laude ab. Nina hatte eine große Zukunft vor sich, ebenso Cassie. „Aber etwas kam dazwischen“, erklärt sie lapidar.
Korrekterweise müsste Fennells Film „Promising Young Women” heißen, Plural. „Hätten wir das Leben eines jungen Mannes wegen einer Anschuldigung ruinieren sollen?“, fragt die Dekanin der Universität Cassie. Vielversprechenden jungen Männern wird im Zweifelsfall eher geglaubt als vielversprechenden jungen Frauen. Nina hat oft getrunken und mit vielen Männern geschlafen, sie hatte einen „Ruf“.
Nun zieht Cassie in „Schlampen-Outfits“ und mit „Blow-Job-Lippen“, die sie sich in einem Online-Tutorial für Teenager abguckt, durch Bars und Clubs. „Sie versteckt sich in aller Öffentlichkeit“, hat Emerald Fennell die Aufmachung ihrer Protagonistin beschrieben. Heißt: Sie benimmt sich so, wie die Welt, erst recht in einer mittelgroßen Stadt in Ohio, es von einer jungen Frau erwartet.
Mit Paris Hilton im Drogeriemarkt
Die perfekte Tarnung für einen Rachefeldzug. Und eine tieftraurige Form der Selbsttherapie. Zarte Hoffnung keimt auf, als Cassie im Coffeeshop ihren Ex-Kommilitonen Ryan (Bo Burnham) wiedertrifft, inzwischen ein Kinderarzt. Noch so ein promising young man. Aber Ryan scheint anders als die anderen zu sein – auch wenn er Cassie nach dem ersten Date zu sich nach oben einlädt. (Sie tritt aus Enttäuschung eine Mülltonne ein.)
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Er singt beim gemeinsamen Einkauf im Drogeriemarkt sogar einen Paris-Hilton-Song mit, „Stars Are Blind“ – eine Szene, die es bereits in die ewige Bestenliste von Romantic-Comedy-Momenten geschafft hat. Wie Fennells Musikauswahl überhaupt exzellent ist, zwischen den Spice Girls, dem Kinderlied „Once Upon a Time There Was a Pretty Fly“ aus dem Noir-Horrorfilm „Die Nacht des Jägers“ und Wagner – Prelude und Liebestod.
Für das Label „MeToo-Film“, das „Promising Young Woman“ automatisch anhaftet, erzählt Fennell allerdings zu intelligent. Cassie hat keine Kastrationsfantasien, sie will nur ihren Frieden finden. Und spielt dabei mit dem Topos der Sichtbarkeit. Sie legt die Diskrepanz zwischen dem, wie die Öffentlichkeit eine junge Frau sehen und eben nicht sehen möchte, offen. Paris Hilton ist hier ein gutes Stichwort. Der Dokumentarfilm „This is Paris“ über die Influencerin, die berühmt dafür wurde, berühmt zu sein, wie es oft abschätzig heißt, legt die Doppelbödigkeit dieser Form von Selbstschutz vor dem Blick der Öffentlichkeit offen. Er ergibt ein gutes Doppel mit „Promising Young Woman“.
Carey Mulligan hat den taxierenden männlichen Blick selbst zu spüren bekommen. Ein namhafter US-Kritiker hielt ihr vor, sie sei nicht hübsch genug, um glaubwürdig einen „schlampigen“ Racheengel zu spielen. Die Schauspielerin reagiert auf die Misogynie souverän. Doch der Vorfall zeigt, dass man heutzutage nicht mal als Star davor geschützt ist, wie eine „vielversprechende junge Frau“ behandelt zu werden. (Ab Donnerstag in den Kinos)