Verfilmung des Olga-Grjasnowa-Romans „Der Russe ist einer, der Birken liebt“: Am Leben vorbeigelaufen
Der Titel wirkt inzwischen etwas irreführend, so schnell kann man den Ruf eines Volkes verderben. Aber weder im gleichnamigen Romandebüt der deutsch-aserbaidschanischen Schriftstellerin Olga Grjasnowa von 2012 noch in diesem Film geht es eigentlich um Russen.
Der Satz, dass Russen Birken lieben, fällt in einer Runde junger Israeli, die feststellen, dass Mascha gar nicht jüdisch aussieht. Das ist wohl zu drei Vierteln ironisch, aber auch rest-ernst gemeint, wie die Andeutung eines Misstrauensantrags. Beim Durchspielen nationaler Zurechnungen bleibt vom Russen etwa, dass er manchmal Bäume umarmt. Das ist immerhin noch ein kleinster gemeinsamer Nenner, aber welchen hat Mascha? Gibt es ihn überhaupt, den allerkleinsten Mascha-Nenner?
Pola Becks zweiter Spielfilm nach „Am Himmel der Tag“ von 2012 beginnt mit einer kurzen Szene, die man keineswegs verpassen sollte, weil man im Kino noch den Platz sucht. Sie ist das, was man früher eine Bettszene genannt hätte, es ist sogar eine zu viert. Bloß dass die drei intimen Vertrauten von Maschas Körper nicht zugleich mit ihr schlafen, sondern offenbar zu völlig verschiedenen Zeiten. Trotzdem ist es eine einzige Sequenz, eine Art Traumsequenz, ein etwas surrealer Bewusstseinsstrom.
Das Bewusstsein kann das nicht: nichts tun. Und wenn doch, ist der Name dafür beredt genug: Filmriss. Man nennt diese Bewusstseinsaktivität im Ruhemodus auch das Default-Netzwerk, und der Verdacht lautet, Pola Beck hat ihren Film gleichsam in seinem Modus, nach seinem Vorbild gedreht. Szenen reihen sich aneinander, die weder in einer räumlichen noch zeitlichen Kontinuität stehen. Das macht die Orientierung nicht eben einfacher, entfaltet aber im besten Fall einen suggestiven Sog.
Leider tritt der beste Fall in „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ nur selten ein. Man sollte doch etwas mehr über Mascha wissen, als der Film fast widerwillig verrät. Andererseits neigt auch unser Default-Netzwerk nicht zu systematischen, semantisch schlüssigen Auskünften.
Drehbuchautor Burkhardt Wunderlich hat von der Romanautorin ein umfassendes Mandat zum Auslassen erhalten. Die wunderbar grob-zarte Aylin Tezel ist Mascha. Nach der ersten Viertelstunde wissen wir immerhin von ihrer ausgeprägten sexuellen Erlebnisfähigkeit und dass sie zu den Menschen gehört, die beim Telefonieren essen. Auch putzt sie sich notfalls noch im Auto die Zähne. Verschlafen ist verschlafen. Und das vor einer Prüfung! Die Beste wird sie trotzdem. Es handelt sich bei Mascha also um eine denkbar robuste, transitorische Existenzform. Sie ist gleichsam eine freie Radikale.
Olga Grjasnowa kam mit elf Jahren nach Deutschland, die Tochter jüdischer Einwanderer aus der früheren Sowjetunion verlor gleichsam ihre Sprache am Ende der Kindheit. Auch Mascha stammt aus Baku, wahrscheinlich hat sie die gleiche Erfahrung des plötzlichen Verstummens gemacht, um die Sprache dann gleich fünffach wiederzufinden: als Dolmetscherin. Eine wunderbare Idee. Aber solche Hintergründe werden hier nicht plastisch.
Pola Becks Ehrgeiz ging wohl dahin, die kongeniale Erzählweise für Maschas Lebensgefühl zu finden. Es gelingt ihr durchaus in der ruhigen, eindringlichen Kamerasprache von Juan Sarmiento. Doch so wie Mascha eine Vorübergehende ist – an Menschen, an Städten, an sich selbst – droht sie auch am Zuschauer vorüberzugehen.
Natürlich, das ahnt man bald, soll durch diese Szenen hindurch auch die Geschichte einer schmerzhaften Selbstfindung erzählt werden. Und dass diese viel mit dem mittleren Teilnehmer der Beischlaf-Traumszene vom Anfang zu tun hat, ist auch klar. Aber es gelingt erst spät, die Teile des Puzzles zum Vollbild zusammenzusetzen. Kerstin Decker
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