Horror-Comic „Red Room“ von Ed Piskor: Schlachtfest im Schutzraum
Eine Warnung vorab: Den hier besprochenen Comic sollte man nicht vor dem Schlafengehen lesen. Und nicht mit der Oma. Sensible Seelen sollten sich gar überlegen, ob sie den vorliegenden Text lesen. Es geht um Gewalt. Es geht um Folter. Es geht um Mord. Es geht um Ed Piskors „Red Room“.
Es geht um die Frage: Hat die Provokation an sich einen Wert? Was fasziniert uns an Horror und Splatter?
Nachdem Ed Piskor mit der Serie „Hip Hop Family Tree“ (2012-2016), einer umfänglichen Geschichtsschreibung der amerikanischen Hip Hop Kultur in Comicform, bekannt geworden war, machte er einen Schlenker in den Mainstream, genauer zu Marvel Comics. Sein 2018 veröffentlichter Zweiteiler „X-Men: Grand Design“ tat für Marvels Mutantentruppe das, was „Hip Hop Family Tree“ für Rap Musik geleistet hatte: Eine komprimierte Nacherzählung ihrer kompletten Geschichte im Comic.
Als wenn er sich fürchten würde, seine Leserschaft könnte sich zu warm und kuschelig bei ihm fühlen, vollführt Piskor nun einen brutalen Schlag in die Magengrube: Sein neuer Comic „Red Room“ handelt von Snuff-Videos im Internetzeitalter.
Menschmutanten zum Abschlachten
Wir erinnern uns: Snuff, das ist die Legende von vor laufender Kamera ausgeführter Folter für zahlungskräftige Kundschaft. Ursprünglich in alten VHS-Tagen entstanden und in einigen Horrorfilmen thematisiert, verlegt Piskor das fiktive Phänomen ins Dark Web.
In seinem Comic hat sich eine hochtechnisierte und skrupellose Snuff-Mafia entwickelt, die Menschmutanten in Farmen züchtet, um diese dann auf grausamste Weise zu verstümmeln und umzubringen, während die Kamera drauf hält.
Live gestreamt wird das Ganze in so genannten Red Rooms im Dark Web, üppig bezahlt mit Kryptowährung. Und nicht nur die Kamera hält voll drauf, auch Piskor überlässt nichts der Fantasie. Da wird gesägt und gezerrt, gesprengt und gesägt, entweidet und enthauptet.
Grenzüberschreitende Stoffe wie diesen vermutet man eher im Kino. Seit Pier Paolo Pasolini 1975 die Welt mit „Salò“ („Die 120 Tage von Sodom“) schockte, versuchten sich immer wieder Filmemacher an grenzüberschreitenden Geschichten. „Martyrs“, „A Serbian Film“… Nie gehört? Dann waren ihre filmischen Erlebnisse behüteter, als meine.
Im Kino schon nicht besonders häufig, findet man im Comic derart Extremes noch seltener. Mir kommt „Faust“ von Tim Vigil und David Quinn in den Sinn, dieser meuchelnde und singende Superheld, Ende der Achtziger in den USA gestartet und in den Neunzigern sogar in Deutschland von EEE verlegt.
Und in der Tat nennt Piskor im Vorwort des kürzlich auf Deutsch beim neu gegründeten Schweizer Verlag Skinnless Crow erschienenen ersten Bandes von „Red Room – The Antisocial Network“ (Übersetzung Jacqueline Stumpf, 160 S., 34,50 €) neben Horror-Videokasetten „Faust“ als eine seiner Inspirationsquellen.
Den realen Horror des Lebens besser verkraften
Warum zieht uns die Grenzüberschreitung so magisch an? Wes Craven, Regisseur von Schockern wie „Das letzte Haus links“ oder „Hügel der blutigen Augen“ sagte mal, dass er Horrorfilme mache, um den realen Horror des Lebens besser zu verkraften.
Ich glaube, das ist der Schlüssel zu unserer Faszination am Grauen. Ich zum Beispiel war ein schreckhaftes Kind. Jede Meldung über einen Unfall oder eine Gewalttat in den Nachrichten sorgte dafür, dass ich nächtelang Albträume hatte. Ich begann als Teenager, mich meinen Ängsten zu stellen, mich mit Horrorstoffen zu beschäftigen, erst in Stephen-King-Romanen, dann in Comics und Filmen.
Ich lernte, mit der Furcht umzugehen. Horrorfilme stählten mich für’s Leben, ich wurde ausgeglichener und umgänglicher. Ja, Katharsis ist das Ziel. Ich las mal von einer Studie, deren Ergebnis es war, dass Horrorfans die friedfertigeren Menschen seien.
Das bedeutet nicht, dass uns Horrorfilme abstumpfen und weniger mitfühlend machen würden. Vielmehr „trainieren“ wir den Umgang mit realem Grauen mit demjenigen, von dem wir sicher sind, dass es fiktiv ist. Und das ist dieser Tage wieder sehr nötig: Wir haben den russischen Invasionskrieg in der Ukraine. Wir haben die mutige Revolution im Iran und die brutal-erbarmungslose Reaktion darauf durch das Mullah-Regime. Wir haben Hungersnöte und Klimawandel.
Man kann den Bogen auch überspannen
Jeder Mensch braucht eine Strategie, um damit umgehen zu können und nicht die Augen zu verschließen. Da kommt ein Comic wie „Red Room“ gerade recht, durch den wir uns mit der Verderbtheit der Menschen in einem sicheren Raum auseinandersetzen können.
Kann man aber den Bogen überspannen? Natürlich kann man das, es gibt rote Linien. Jim Rugg, ein Kumpel von Ed Piskor, mit dem er auch gemeinsam das YouTube-Plauderformat „Cartoonist Kayfabe“ dreht, zeichnete einige Variant-Cover für „Red Room“. Eins davon war eine Hommage an Art Spiegelmans „Maus“, den weltbekannten Comic über Spiegelmanns Vater und die Shoah.
Als ich dieses Cover auf Twitter sah, klingelten sofort sämtliche Alarmsirenen bei mir. Dass man den Holocaust nicht für einen Foltercomic missbraucht, sollte eigentlich jedem klar sein. Fiel aber offensichtlich weder Rugg, noch Piskor, noch jemandem beim Verlag Fantagraphics auf.
Moralische Mindeststandards
Man fragt sich manchmal, was eigentlich so schwer daran ist, gewisse moralische Mindeststandards zu wahren. Auch Provokation hat Regeln. Nun, Rugg und Fantagraphics zogen das Cover zurück und entschuldigten sich. Piskor und Rugg benahmen sich hier wie zwei pubertierende Welpen, die voller Begeisterung kläffend über’s Ziel hinausschießen. Man muss sie erst mit der Nase ins Häufchen stupsen, damit sie stubenrein werden. Und wie zwei Welpen kann man ihnen nicht lange böse sein, wenn sie einen mit ihren Kulleraugen angucken.
Grenzüberschreitende Stoffe, jedenfalls die gelungeneren unter ihnen, haben meistens eine inhaltliche Ebene, die den Schock rechtfertigt, die ihn von seinem Selbstzweck befreit. Bei „Salò“ ist es die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, bei „Martyrs“ die philosophische Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, bei „A Serbian Film“ die durch serbische Kriegsgreuel vernarbte und verdunkelte serbische Seele.
Hat „Red Room“ auch so eine Ebene? Ja, man kann den Comic durchaus als Satire auf das Internetzeitalter lesen, als zynischen Kommentar auf Hass im Netz, auf Kryptowährung und NFTs, auf entfesselten, über Leichen gehenden Kapitalismus.
Dazu kommt Piskors ganz eigene, unverwechselbare Bildsprache. Es gibt hier zwar, wie in seinen Vorgängerwerken auch, ein paar Piskor-typische Probleme – hier und da entgleist mal ein Gesicht, und das ausgewogene Text-Bild-Verhältnis wird oft zugunsten von sehr viel Text verlassen – aber bei so einem eigenwilligen Stil fällt das unter zeichnerischen Charakter.
Ja, „Red Room“ ist ein sperriger, ein kryptischer Comic. Aber es zeugt von Piskors handwerklichem Vermögen, wie kreativ er die Seiten aufbaut, wie er Browserfenster als Panels verwendet, wie er reichhaltige Texturen einsetzt, wie er Szenen gegeneinander schneidet.
„Euer geneigter Autor versucht hier nicht, sich Bibliothekaren und Akademikern anzubiedern“, schreibt Piskor im Vorwort zu „Red Room“. „Kein Köder für den Eisner-Award. Ich möchte nur dafür sorgen, dass du dich ein wenig unwohl fühlst, ein wenig durchdrehst und wenn ich richtig eklig werden muss, um das gewünschte Ziel zu erreichen, werdet ihr sehen, dass ich damit absolut kein Problem habe“
Comic als Gegenkultur, das ist selten geworden in Zeiten von Graphic Novels und Comicförderung und hat meine Sympathie. Hat also die Provokation an sich einen Wert? Die Antwort ist ein beherztes „Ja, aber“.
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