Jupiter auf der Pirsch
Was von dieser Premiere vielleicht am stärksten in Erinnerung bleibt: Nicht die Farbenpracht und wilden Tänze, nicht Plutos Höllenreich, wo die Enthaupteten wie Derwische umherwirbeln, oder Jupiters Fliegenkostüm, mit dem der CEO der Götter um Eurydike herumscharwenzelt. Sondern dieses so lang entbehrte Gefühl, dieses Fremdeln: Der Saal der Komischen Oper ist voll, ganz voll! Alle 1190 Plätze sind besetzt, man spürt den Arm des Nachbarn neben sich und empfindet es fast als Glück.
Seit 1. Dezember ist an der Behrenstraße Schluss mit Schachbrett – und während Bayern seine Theater, Weihnachtsmärkte und alles andere geschlossen hält und sich selbst die bitterste, traurigstmögliche Adventszeit verordnet, geht Berlin den umgekehrten Weg. Man reibt sich die Augen – und ist dankbar für etwas, das früher banal gewesen wäre.
Natürlich sorgt auch das Stück für Stimmung. „Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach, mit dessen Uraufführung 1858 im Théâtre des Bouffes-Parisiens ein neues Genre, die Operette, begründet wurde: Da sind Lacher im Grunde garantiert, wenn auch keine Selbstläufer. Verlassen darf man sich hier auf nichts, vor allem sind die vielen Parodien und Anspielungen, mit denen Offenbach das zweite Kaiserreich und auch Napoleon III. selbst aufspießt, heute niemandem mehr verständlich.
Göttergattin Juno als Alkoholikerin
An der Komischen Oper tut also Barrie Kosky das einzig Richtige, was allerdings auch schon viele Regisseure vor ihm getan haben: Er schiebt die Historie entschlossen beiseite – wiewohl die Kostüme von Victoria Behr und die Kulissen von Rufus Didwiszus ihr Referenz erweisen – und stellt das in den Vordergrund, was auch einem heutigen Publikum noch, nun ja, in die Glieder fährt: Die Sache mit den Weiblein und den Männlein, den Kampf um Kopulation, den Streit der beiden Götter um Eurydike, in dem der arme Orpheus – Tansel Akzeybek singt die Rolle trotzdem mit Würde – hoffnungslos untergeht.
Die Mythentravestie, in der sich Göttergattin Juno (Karolina Gumos) gleich zu Beginn als Alkoholikerin outet und Götterbote Merkur (Peter Renz) fast an der wesentlichen Aufgabe eines Boten scheitert: Namen zu überbringen. Offensiv grell und schlüpfrig geht es hier zu, große und kleine Schwänze baumeln, und zum „Galop infernal“, dem berühmten Cancan, öffnet sich das rosa Futter der Röcke wie monströse Vulven. Übrigens schmeißen hier, wie angeblich bei der Uraufführung auch, zur Hälfte Männer die Schenkel in die Höhe. Die Unterwelt schreibt Genderparität groß.
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Im Musiktheater generell und zumal in diesem Stück kann man den Bogen sehr weit überdehnen, so weit wie man will – so lange musikalisch keine Kompromisse eingegangen werden, funktioniert es. Adrien Perruchon ist ein wunderbarer Offenbach-Dirigent, inspiriert, hochkonzentriert und spritzig geht er mit dem Orchester der Komischen Oper zu Werke, lässt die Kleinteiligkeit und den Detailreichtum dieser Partitur genauso erblühen wie die Zitate und Parodien (Marseillaise, Gluck, Bach), formt einen rhythmusverliebten Klang und setzt die bei Offenbach so wichtigen, an Rossini geschulten Tempoänderungen und Accelerandi virtuos um – und überfordert damit zumindest zu Beginn den einen Sänger oder die andere Sängerin oben auf der Bühne.
Gefeierte Premiere bei den Salzburger Festspielen
Kosky hat die Inszenierung 2019 als erste Offenbach-Operette überhaupt bei den Salzburger Festspielen präsentiert und jetzt, nach pandemiebedingten Verschiebungen, mit völlig neuer Besetzung ans heimische Haus geholt. Nur einer ist mitgekommen von der Salzach, denn ohne den geht es nicht. Max Hopp singt die kleine Ein-Arien-Rolle des John Styx, Plutos Gehilfe („Als ich noch Prinz war in Arkadien“) – und übernimmt sämtliche gesprochenen Dialoge aller anderen Figuren einschließlich der Geräusche, des Trippeltrappel, Gluckerns und Zischens. Eine gewaltige stimmliche Leistung, die vor zwei Jahren in Salzburg großen Eindruck gemacht hat.
[Viele Aufführungen im Dezember, bereits weitgehend ausverkauft.]
Doch jetzt, beim Wiedersehen, verliert sie an Überzeugungskraft und wirkt über weite Strecken vor allem albern und schablonenhaft. Die Stimmen klingen ja alle gleich, Hopp kann oder will da nicht differenzieren. Das schafft eine große, zweifellos beabsichtigte, Distanz zum Stoff, wo man sich vielleicht eher nach Empathie und Einfühlung sehnt. Und da sich niemand ins Wort fallen kann, vielmehr alle abwarten müssen, bis eine Figur ausgeredet hat, nimmt es auch enorm viel an Tempo aus den gesprochenen Passagen.
Max Hopp übernimmt sämtliche Sprech-Dialoge
Trotzdem beeindruckt die Mühe, mit der sich alle Beteiligten in diese Partien eingearbeitet haben. Sydney Mancasola, als entführte Eurydike die eigentliche Hauptfigur des Stücks, hat weder Scheu noch Scham vor comichaften Kreisch-Ausfällen, singt aber auch mit seriösem, saftstrotzenden Sopran, der auch das letzte Ohr erreicht – wie auch Nadine Weissmann in der Nebenrolle des Cupido. Hagen Matzeit verfremdet die Öffentliche Meinung – in Salzburg hat Anne Sofie von Otter die Rolle gesungen – mit countertenoralem Klang.
Peter Bording bleibt als Jupiter etwas blass, und auch Wolfgang Ablinger-Sperrhacke enttäuscht als Pluto, denn trotz einer gigantischen Lockenperücke, die Prinzessin Leia neidisch machen würde, verfügt er nicht über die diabolische Ausstrahlung eines Höllenfürsten. Doch alles wird wettgemacht vom Chor des Hauses, der sich in bewährter Manier und Felsenstein-Tradition (wie Kosky nie müde wird zu betonen, auch an diesem Premierenabend nicht) voller Wahrhaftigkeit in die Rollen schmeißt und in den großen Ensembleszenen die Hölle zu einem Ort macht, den man eigentlich ganz gerne kennenlernen würde.