Hundert Jahre Radio : Medium der Erleuchtung
Als Charles Lindbergh im Mai 1927 mit seinem „Spirit of St. Louis“ getauften Propellerflugzeug der erste Nonstopflug von New York nach Paris gelang, war dies gleich in mehrfacher Hinsicht eine Pioniertat. Die Atlantiküberquerung, für die der Pilot 33 Stunden, 30 Minuten und 30 Sekunden benötigte, gilt als erstes Ereignis der Mediengeschichte, das die ganze Welt dank der zugeschalteten Radiosender live mitverfolgen konnte.
So stieg Lindbergh, der zuvor noch als „flying fool“ verspottet worden war, über Nacht zum berühmtesten lebenden Menschen auf. Als er wenige Wochen später in die USA zurückkehrte und in Washington vor die Mikrofone trat, schalteten 30 Millionen Hörer im ganzen Land ihre Geräte ein. „Kein heimkehrender Held ist je mit größeren Ehren empfangen worden“, schrieb die „New York Times“.
„Radiozeiten“ heißt das Buch von Stephan Krass, in dem der Atlantikflug auch deshalb eine Schlüsselrolle spielt, weil Bert Brecht ihn als Stoff für sein Hörspiel „Lindbergh“ aufgriff, das mit der Musik von Kurt Weill 1929 als „radiophonische Kantate“ in Baden-Baden uraufgeführt wurde. In einer lehrstückhaft revidierten Fassung kamen alle Stimmen aus dem Radio, nur nicht die von Lindbergh.
Seinen Part sollten die Hörerinnen und Hörer singen. Eine Frühform des interaktiven Radios, mit der sich Brechts Forderung erfüllen sollte, den Rundfunk „aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“ zu verwandeln und aus jedem Empfänger einen potenziellen Sender zu machen. Doch die Nachfrage nach den Partituren hielt sich in Grenzen. Mitmachen wollten nur wenige.
Vor fast hundert Jahren, am 29. Oktober 1923, wurde aus dem Berliner Vox-Haus in der Potsdamer Straße das erste offizielle Rundfunkprogramm in Deutschland übertragen. Veranstalter war eine „Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung“, gesendet wurde unter anderem Franz Lehárs Operette „Frasquita“.
Populär durch Lautsprecher
Sieben Jahre später, 1930, gibt es bereits 52 Sender und mehr als drei Millionen Hörer. Zur Popularität trägt bei, dass die Hersteller beginnen, Lautsprecher in die Empfangsgeräte einzubauen, um die lästigen Kopfhörer überflüssig zu machen. Das Hören wurde damit zum Gemeinschaftsereignis.
Stephan Krass, der lange Jahre Hörfunkredakteur beim SWR war, hangelt sich lieber an Anekdoten entlang, als eine strenge Chronologie abzuspulen. Man könnte sich sein Buch auch als Feature vorstellen, mit einer sonor plaudernden Sprecherstimme. Im berühmten magischen Auge, das früher beim Einschalten langsam aufleuchtete, erkennt er ein Indiz dafür, dass das Radio ein „elektronisches Erleuchtungsmedium“ sei.
Zur Unterwerfung beigetragen
Doch die Verdunklung folgte, als die Nationalsozialisten den Rundfunk ab 1933 zum Propagandainstrument machten, bei dem das Hörern von „Feindsendern“ mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Der preisgünstige Version des „Volksempfänger“, auch „Goebbels-Schnauze“ genannt, übertrug Hitler-Reden in jeden Haushalt. Das Radio, konstatierte die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders, habe „viel stärker zur Unterwerfung beigetragen“ als alle Filme.
Krass schwärmt von der „heroischen Epoche“ des Radios in der Nachkriegszeit, als der von den Westalliierten etablierte öffentlich-rechtliche Rundfunk „nicht nur ein Lautmedium, sondern schlechthin das Leitmedium“ der jungen Bundesrepublik geworden sei.
Nach den dröhnenden Ansprachen der Nazis wollten die Menschen nun offenbar authentische Stimmen hören, oft die von Schriftstellern. Die Stimme, mit der Gottfried Benn 1950 im NWDR fünf Gedichte aus seinem Band „Trunkene Flut“ las, wird als „leise und ruhig, nicht gepresst, etwas unterkühlt“ beschrieben.
Der Dichter, im Hauptberuf Hautarzt, hörte sich die Aufzeichnung nicht an, saß lieber in seiner Berliner Kneipe „und zischte mein Bier“, hörte aber von Patienten, „es sei ergreifend gewesen, zum Schluss kam schöne Musik“. Literarische Höhenflüge erlebte das Radio auch beim SDR in Stuttgart, wo Alfred Andersch und sein Nachfolger Helmut Heißenbüttel Autoren wie Wolfgang Koeppen, Ingeborg Bachmann, Max Frisch oder Heinrich Böll mit Essays beauftragten.
Große Historie, vor der das aktuelle Programm verblassen könnte. Doch Stephan Krass, der am Ende Piratensendern und Podcasts eigene Kapitel widmet, glaubt an die Zukunft des Mediums, auch wenn die lineare Verbreitung zum Auslaufmodell wird. Die Botschaft seines kenntnisreichen und hochgradig amüsanten Buchs lautet: bitte einschalten und hinhören.
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