Buch über Pop und Politik: Deutschland, Deutschland, alles war vorbei

War es ein Alfa oder ein Fiat? Das lässt sich rückblickend nicht mehr klären, aber jedenfalls saß Gabi Delgado-López am Steuer des Wagens, mit dem er im August 1978 aus Wuppertal kommend die Band Mittagspause in Düsseldorf abholte, um mit ihr nach West-Berlin zu fahren. Dort sollten sie aus Anlass der Eröffnung des Kreuzberger Clubs SO36 beim ersten deutschen Punkfestival auftreten.

Am Grenzübergang Helmstedt, wo der Spanier aussteigen muss, um ein Transitdokument zu bekommen, fallen ihm rote Banner auf. Sie feiern die deutsch-sowjetische Freundschaft. Für das Konzert reisen aus Westdeutschland auch die Gruppen S.Y.P.H und Male an, sie treffen auf West-Berliner Bands wie DIN A Testbild und PVC. Die Düsseldorfer Musiker um den Sänger Peter Hein schauen sich die Mauer an und essen in einem Döner-Imbiss gleich neben dem SO36.

Bald nach der Reise fasst Gabi Delgado-López seine Eindrücke in stakkatohaften Zeilen zusammen: „Kebabträume in der Mauerstadt / Türk-Kültür hinter Stacheldraht / Neu-Izmir in der DDR / Atatürk der neue Herr.“ Das Ende ähnelt einem Aufschrei: „Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei / Wir sind die Türken von morgen.“ Der Song wird zuerst in einer Live-Version von Mittagspause veröffentlicht, später nimmt Delgado-López ihn mit seiner Band Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF) auf, die er mit dem Schlagzeuger Robert Görl gründet. Zum Hit wird er, als die Fehlfarben – Nachfolger der Mittagspause – ihn 1980 unter dem Titel „Militürk“ auf ihrem herausragenden Debütalbum „Monarchie und Alltag“ herausbringen.

„Militürk“ sei „vielleicht der berühmteste deutsche Punksong“, schreibt Ulrich Gutmair, und macht ihn zum Ausgangspunkt seines Buchs „Wir sind die Türken von morgen“, das sich zu einer Geschichte der Bundesrepublik weitet. „Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze“, verkündete Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 als Reaktion auf steigende Arbeitslosenzahlen. Schon der Anwerbestopp von 1973 hatte den Zuzug von sogenannten Gastarbeitern beenden sollen, wurde aber ungewollt zum Motor der Einwanderung, weil viele, die schon in Deutschland lebten, ihre Familien nachholten. West-Berlin stieg zur größten türkischen Community außerhalb der Türkei auf.

Delgado-López benutzt in seinem Text Klischees einer Verschwörung, verspottet die Angst vor der „Überfremdung“. 1958 in Córdoba geboren, war er mit acht Jahren seinen Eltern nach Dortmund gefolgt. Der Vater, ein Kommunist, hatte aus Francos Spanien fliehen müssen. Für Gabi wird die Disko zum Ort der Zuflucht.  Am Tresen des Ratinger Hofs in Düsseldorf lernt er Görl kennen. Im kalten Licht der Neonröhren, die dort brennen, so Gutmair „kann sich niemand verstecken“.

Türken waren unerwünscht

Gutmair stellt andere Biografien an die Seite von Delgado-López. Etwa die von Ata, der als Kind aus der Türkei nach Deutschland kommt und in Köln von Schildern schockiert ist, die an manchen Gasthäusern hängen: „Türken unerwünscht!“. Er nennt sich Ozan Ata Canani, spielt eine elektrisch verstärkte Bağlama-Langhalslaute und schreibt 1978, mit 15 Jahren, das Lied „Deutsche Freunde“, in dem er Max Frisch zitierend feststellt: „Arbeitskräfte wurden gerufen / Aber Menschen sind gekommen“ und wissen will: „Ich bin Ata und frage euch / Wo wir jetzt hingehören“.

Im deutschen Schlager gibt es singende Italienerinnen, Tschechen, Griechinnen und einen falschen Russen. Aber keine Türken. Dabei verkauft Yüksel Özkasap, die „Nachtigall von Köln“, Millionen Schallplatten in Deutschland. Sie singt auf Türkisch, ihre Zielgruppe sind Gastarbeiter. Ihr Ehemann Yilmaz Asöcal veröffentlicht auf seinem Plattenlabel Türküola mehr als tausend Singles und Alben.

Sie werden von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert, in den deutschen Charts nicht gelistet. Mehr Interesse zeigt die Neue Deutsche Welle in Form von Ideal, die in ihrer Hymne „Berlin“ den Geruch von „Oliven und Majoran“ auf Koran reimen und später einen türkischsprachigen Song herausbringen: „Aşk Mark ve Ölüm“ (Liebe, D-Mark und Tod). Die Punkband Rotzkotz zählt ein Lied auf Türkisch an: „Bir, iki, üc, dört“.  

Punk ist laut Gutmair eine „antiidentitäre Bewegung“, die das Anderssein nicht als Mangel, sondern als Auszeichnung versteht. Die Neue Deutsche Welle ist für ihn Ausdruck einer Emanzipation. Der Rock’n’Roll war in Deutschland mit Stars wie Peter Kraus noch fest in der Hand der Schlagerbranche, Beatmusik folgte britischem Muster. Pop zeigt, wie multikulturell das Land geworden ist. Die Band The Wirtschaftswunder aus Limburg, deren Platten bei Alfred Hilsbergs legendären Label ZickZack in Hamburg erscheinen, hat Wurzeln in Italien, Kanada und der Tschechoslowakei.

Der Sänger Angelo Galizia stammt aus Sizilien, in einem Song verarbeitet er die Migrations-Erfahrungen seines Vaters: „Ich komm nach Süd und such mein Glück. Heimweh, Heimweh. Bei euch in Nord. Oh wie kalt. Bei euch in Nord“. Gutmair vergräbt sich tief in der alternativen Publizistik von Fanzines wie „Gegendarstellung“, porträtiert auch die ausschließlich mit Frauen besetzte Punkgruppe Östro 430 und die Band Deutschland aus Hannover, die schon mit ihrem Namen „Krawall anzetteln“ wollte. Sie existierte nicht lange und brachte nur ein paar Stücke auf Kassette heraus.

Ein prägendes Erlebnis für Gabi Delgado-López war es, als er in einer Schwulendisko im Ruhrgebiet zum ersten Mal Donna Summers Stöhn-Hit „I Feel Love“ hörte: „Da dachte ich, Sex und Elektronik, das ist es.“ Der größte Erfolg seiner Band DAF hieß „Der Mussolini“ und geriet sogleich unter Faschismusverdacht. Zu harten Beats aus dem Sequenzer skandiert Delgado-López: „Beweg deine Hüften. Und tanz den Mussolini. Und mach den Adolf Hitler. Tanz den Kommunismus.“

Ein anderer DAF-Song, „Der Räuber und der Prinz“, erzählt in der Form eines Märchens von homosexueller Liebe. Die faschistische Verherrlichung von Kraft, Jugend, Männlichkeit – so argumentiert Gutmair – zersetzten DAF durch das Ausdrücken von Lust und „eines Begehrens, das sagt, was es will“.

„Wir sind die Türken von morgen“ ist eine Liebeserklärung an die Neue Deutsche Welle. Für Ulrich Gutmair klingen viele ihrer Texte so, als wären sie für unser Gegenwart geschrieben. Nur dass sie „gewitzter, humorvoller und radikaler“ seien.

Sein Buch demonstriert, wie Pop und Politik zusammenhängen. Wer möchte, kann dazu tanzen.

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