Die USA debattieren über die falschen Fragen
Der Begriff „False Balance“ ist unübersetzbar (denn was bedeutet „falsches Gleichgewicht“?) und meint, dass einer kleinen, lauten Gruppe zu viel Bedeutung gegeben werde; dass Lügner und Wirrköpfe dadurch aufgewertet würden; dass darum Medien die Wirklichkeit verzerrten und aus dem Gleichgewicht brächen. Ich glaube ja, dass gleichzeitig drei Thesen wahr sind, die einander nur scheinbar widersprechen:
1. False Balance ist kein Problem, sondern eine Herausforderung. Wir Journalisten und Journalistinnen sollten die Vielfalt der Gesellschaft wahrnehmen und abbilden, und es ist Teil der Aufgabe, wahr von falsch zu trennen, das Abgebildete zu analysieren. Das ist Arbeit, aber machbar.
2. False Balance ist ein Modewort geworden, mit dem mitunter Debatte verhindert wird; schon der Vorwurf „Das ist False Balance!“ kann zu Intoleranz gegenüber Widerspruch und damit zu stressfreien Einheitsmeinungen verführen.
3. False Balance ist ein Problem. Die Tabakindustrie schaffte es, vermeintliche Wissenschaftler in Medien zu platzieren, die dann Zweifel daran säten, dass Rauchen Krebs verursache; könne sein, sei aber nicht bewiesen, das war die Methode, und das Ziel war Verschleppung, waren weitere Jahrzehnte des Geldverdienens.
Trübes Wasser, Unsicherheit, Verzögerung
Die Erdöl- und Kohleindustrie tut nun das Gleiche: Es gebe zwar eine Erderwärmung, aber die Ursachen seien nicht zweifelsfrei klar … obwohl auch diese Ursachen längst bewiesen sind. Das Resultat von „Quatschpaarungen“, wie „Zeit“-Kollege Jochen Bittner „False Balance“ übersetzt: trübes Wasser, Unsicherheit, damit schwächere Gesetze und Verzögerung, alles wie gehabt.
Es geht im amerikanischen Kongress in diesen Tagen um den 6. Januar 2021, um den Sturm auf das Kapitol, um den Versuch Donald Trumps und seiner Horden, die Demokratie abzuschaffen, nämlich den Wahlsieg Joe Bidens für nichtig zu erklären und Trump im Amt zu halten. So war es. Es war ein Putschversuch.
[Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.]
Die Anhörungen sind ein politisches Drama, aber das falsche. Eigentlich müssten die USA ihre Demokratie schützen. Sie müssten debattieren, wie verhindert werden kann, dass bei kommenden Wahlen ein Putsch wie jener vom 6. Januar zu seinem Ziel führen wird; und dass dann eine gewählte Präsidentin ihr Amt nicht antreten kann, weil sich ein abgewählter Präsident im Weißen Haus verschanzt.
Die Republikanische Partei platziert Menschen, die Donald Trumps Erzählung vom Wahlbetrug weitertragen, in Ämtern, in denen diese Menschen künftig Wahlen zertifizieren oder für ungültig erklären werden.
Dass der Kongress stattdessen nach hinten blickt, liegt daran, dass die Gegenerzählung – es gab gar keinen Sturm auf das Kapitol, aber gab es nicht doch einen Wahlbetrug, muss es nicht einen gegeben haben, wenn so viele Menschen darüber reden? – omnipräsent ist und verfangen hat. Dass heute etwas aufzuklären ist, was gestern zweifelsfrei aufgeklärt wurde und dass heute deshalb nicht über das gestritten wird, was morgen wichtig ist, liegt an False Balance.
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Vor zwei Wochen begegnete ich bei den Mitteldeutschen Medientagen der Neurowissenschaftlerin und Medienpsychologin Maren Urner. Naturwissenschaften gründeten auf einer Wissensbasis, sagte sie, zu Fakten könne es keine alternative Position geben. Mehr Fachwissen sei nötig, um richtig und falsch trennen und dann falsch ignorieren zu können, sagt Maren Urner: „Sobald eine falsche Information gesendet ist – je doller, desto mehr Aufmerksamkeit –, verändert sie unsere Gehirne, unser Weltbild, damit unser Handeln. Je öfter wir etwas hören, desto mehr speichern wir es ab.“
Maren Urner sagt übrigens, alle Medienmenschen bräuchten psychologische Grundkenntnisse.