Am Grab meines Vaters

Vater und Sohn gehen spazieren, mit Hund, so beginnt dieser Roman von Johannes Laubmeier, „Das Marterl“. Sie gehen durch den Ort zum Fluss hinunter, wo der Rainfarn wächst. Eine Rainfarnblume ziert als Tattoo auch den Unterarm des Sohns.

Dann die überraschende, tragische Wendung: „Ich drehe mich nach meinem Vater und dem Hund um und finde sie nicht.“ Der Sohn erreicht ein Grab, legt den Rainfarn ab. Und klar wird: Der Vater ist tot. Den Spaziergang hat der Erzähler allein gemacht. Seine Sehnsucht nach dem Verstorbenen hat sowohl ihn wie auch die Leser:innen in die Irre geführt: „Nichts von alldem ist wirklich passiert. Und alles immer wieder.“

Er trägt ein Rainfarntattoo auf dem Arm

Johannes Laubmeiers autofiktionales Romandebüt erzählt von einer Wiederkehr. Und davon, das Unveränderliche zu akzeptieren. Einige Aspekte dieser Geschichte gleichen dem Leben des Autors, der 1987 in Regensburg geboren wurde. Wie sein ich-erzählender Romanprotagonist mit dem Namen Johannes wuchs auch er in Niederbayern auf und studierte in Cambridge. Auch er verlor seinen Vater bei einem Verkehrsunfall, auch er trägt ein Rainfarntattoo auf dem Arm. Tatsächlich wollte Laubmeier zu Beginn eine längere Reportage schreiben, die sich aber auswuchs.

Daher liest sich dieser Roman zuweilen etwas sachlich, distanziert. Doch ist das keine Schwäche, sondern – ganz im Gegenteil – seine Stärke. „Das Marterl“ ist mehr als eine psychologische Abhandlung. Er stellt Fragen wie: Wo kommen wir her? Was hat uns geprägt, Warum sind wir, wie wir sind? Warum ist es falsch, seine Identität zu verleugnen?

Nachdem der Vater bei einem Motorradunfall stirbt, geht sein Sohn nach England. Er will hier studieren – und seine Erinnerungen kontrollieren. Doch nach gut einem Jahrzehnt kehrt er zurück in die Kleinstadt A., um mehr über den Tod seines Vaters herauszufinden. Der Aufenthalt entpuppt sich als Konfrontation mit den Erinnerungen.

[Johannes Laubmeier:  Das Marterl. Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 288 Seiten, 22 €]

Diese werden aus der Sicht „des Jungen“ geschildert. Im Wechsel springt der Roman zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sachte tastet sich Johannes dabei bis hin zu dem traumatisierenden Todestag seines Vaters vor. Nach und nach rekonstruiert der Erzähler, welche wichtige Rolle der Vater in seinem Leben gespielt hat. Die chronologisch sortierten Szenen zeigen auf authentische Weise eine liebevolle Dynamik von Vater und Sohn.

Der Vater beschützt den Jungen, als sich dieser siebenjährig beim ersten Wanderurlaub vor den Gipfeln der Berge fürchtet: Sie erinnern ihn an die Zähne eines wilden Tiers. Und als Johannes etwas älter geworden ist und in einer Ska-Jugendband spielt, begleitet der Vater die Band als Fotograf.

Der Vater zeichnet sich auch dadurch aus, in kritischen Momenten Humor zu bewahren: Zum Beispiel, als Johannes von einer dummen Jugendaktion berichtet, die damit endet, dass er und seine Freunde Brause auf einen toten Abt verschütten. Nach dem Gespräch mit dem Schuldirektor kann sein Vater einfach nicht ernst bleiben und lacht angesichts der absurden Situation laut los.

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Bei seinen Streifzügen durch A., die kein besonderes Ziel haben, denkt der Erzähler darüber nach, was sich verändert hat und was gleich geblieben ist. Er fühlt sich auf unbestimmte Weise mit seinem Kindheitsort und dessen Menschen verbunden: „Eine Kleinstadt ist eine limitierte Anzahl von Geschichten, die jeder kennt – und die zu erfahren aus irgendeinem Grund immer noch wichtig ist.“

Johannes’ Verhältnis zum abgeschotteten Kleinstadtleben ist ambivalent. Auf einem Bierfest, auf dem ein rechter Burschenverein die politischen Schattenseiten der Kleinstadt verkörpert, gerät er beinahe mit einem wehrmachtsstolzen Mitglied aneinander. Diese Situation lässt ihn in Wut ausbrechen: „Ich hasse alles hier. Diese Gewalt und wie sehr ich mich davor fürchte. Diesen Ort, an dem diese Angst normal ist.“

Treuer Wegbegleiter ist der US-amerikanische Dichter Charles Olson

Auch der übertriebene Katholizismus wird in einem ironisch-kritischen Licht geschildert. Letzten Endes hat die Wahrheit viele Facetten. Das wird ihm bewusst, als er alte Jugendfreunde trifft. Und eine Freundin, die ihm sein Verschwinden nicht mehr übelnimmt.

Treuer Wegbegleiter ist der US-amerikanische Dichter Charles Olson, dessen Worte ihm Orientierung geben. Johannes verbindet Olsons Gedichte mit den eigenen Erfahrungen. Es besteht eine geheimnisvolle Verbindung zwischen Dichter und Erzähler: „Tansy to take the smell, Rainfarn“, lautet ein Zitat im ersten Kapitel. Diesen Vers schrieb Olson über den Ort seiner eigenen Kindheit, und mit diesen Worten kann sich Johannes identifizieren.

Das langsame Ankommen in der Kleinstadt A., es symbolisiert hier letztlich die beginnende Akzeptanz eines Verlustschmerzes.