Helgard Haugs Roman „All Right. Good Night“: Hier und da, nicht hier und nicht da
Es ist eines der größten Rätsel der Luftfahrtgeschichte. Am 8. März 2014 verschwand eine Boeing 777 mit 239 Personen an Bord von den Kontrollschirmen. MH370 sollte von Kuala Lumpur nach Peking führen. Wohin die Maschine tatsächlich flog, ist bis heute ungeklärt. Einige Teile wurden an Küsten entdeckt, das Wrack selbst und der Flugschreiber sind weiterhin verschollen. Während Ozeanologen, Luftfahrtexperten und Anhänger von Verschwörungserzählungen immer neue Theorien in die Welt setzten, nahm sich auch eine Künstlerin des Falles an. Im Dezember 2021 kam Helgard Haugs Inszenierung „All right. Good night“ am Berliner HAU heraus. Der Titel lehnt sich an den letzten Funkspruch des Kapitäns an.
Auf der Bühne traten hin und wieder zwei Performer auf, sprachen kaum, kündigten nur die nächsten Kapitel an, schippten Sand aus Draisinen, absolvierten reduzierte Choreographien. Zu sehen gab es für die Zuschauer an diesem Theaterabend wenig, sie wurden zum Lesen aufgefordert. Haug ließ zu Live-Musik ihren Text auf einen Gaze-Vorhang projizieren.
Sie berichtete darin von den vielen Versuchen, das Rätsel MH370 zu lösen, aber auch davon, wie die Angehörigen mit der Unsicherheit umgehen, mit dem Verlust, mit ihrer Trauer. Hinzu kam eine ganz persönliche Ebene. Während die Spurensuche anhielt, erkrankte der Vater der Regisseurin an Demenz. Haug parallelisierte die von aller Welt verfolgte Katastrophe mit ihrer eigenen, erzählte, wie sich der Vater immer weiter von seinem Umfeld entfernt, in eine fremde Welt abdriftet, bald engste Angehörige nicht mehr erkennt.
Ein trauriger Ton
Eine überarbeitete Fassung des Stücks kommt nun bei Rowohlt als Buch heraus, „Roman“ steht auf dem Titelblatt, was die Genese des Texts zwar verschleiert, aber doch erstaunlich gut passt. Etiketten, Schubladen oder Gattungen sind für Haug ohnehin kein großes Thema. Seit über zwanzig Jahren erprobt sie die Grenzen des Theaters, ihre Gruppe Rimini Protokoll hat „Das Kapital“ und „Mein Kampf“ auf die Bühne gebracht, äußerst unterhaltsam Bevölkerungsstatistiken inszeniert und eine Hauptversammlung der Daimler AG gekapert.
Mit „All right. Good night“ erfindet sie sich nun noch einmal neu: als Schriftstellerin, deren Schreiben keiner Bühne, keiner begleitenden Musik und keines weiteren Kontexts bedarf. Er klingt auch auf der weißen Seite. Der Ton ist zumeist traurig, lässt aber auch immer wieder Hoffnung zu, wenn eine neue Theorie über den Verbleib des Flugzeugs die Runde macht, eine Hoffnung wenigstens auf Klarheit.
Manche Passagen sind sogar durchaus humorvoll, vor allem die Schilderungen, wie der verwirrte Vater mit fortschreitender Krankheit einen Hang zum Größenwahn entwickelt, schließlich gar behauptet, er habe die Ostsee „verwirklicht“. Wird er hier in seiner Schwäche vorgeführt, schmunzelt man als Leser auf seine Kosten? Mag sein, doch näher liegt die Annahme, dass die erzählende Tochter wann immer möglich eine heitere Perspektive einnimmt, um wenigstens beizeiten dem Schmerz und der Überforderung zu entkommen.
Erschwerter Abschied
In diesen Gefühlen treffen sich die zwei Stränge, mehr noch aber in einer Ambivalenz von An- und Abwesenheit. Der Vater siezt seine Tochter bald, fragt sie nach ihrem Namen, sie aber hat ihn genau vor Augen, weiß, dass er es ist. Sie muss damit leben, dass er zugleich verloren und noch da ist. Auch die Angehörigen der Passagiere- und Crew-Mitglieder von MH370 leiden darunter, leiden so.
Dadurch dass die Maschine nicht gefunden wird, dass unklar bleibt, was mit ihr geschah, ist ein Abschied erschwert, für viele gar unmöglich. Haug hat mit einigen von ihnen gesprochen. Einer schreibt unablässig SMS an das Handy seiner Frau. Eine lässt den Rasen vor dem Haus wuchern, weil das Mähen immer Aufgabe ihres Mannes war. Wenn er zurückkommt, soll er wissen, dass sie auf ihn gewartet hat. Eine Gruppe Chinese geht jeden Tag zur malaysischen Botschaft in Peking, um dort nachzufragen: „Gibt es etwas Neues?“
Die Psychologin Pauline Boss liefert Haug den Begriff für den Zustand, in dem sie und die Angehörigen feststecken; „ambiguous loss“, etwas, womit man nicht abschließen könne. „Die einzige Chance, mit unklaren Verlusten zu leben, ist, zwei gegensätzliche Ideen gleichzeitig im Kopf zu haben: Du bist fort, vielleicht aber noch hier. Du bist hier, vielleicht aber auch fort.“
Mit dieser dezent gesetzten Wendung ins Abstrakte weitet die Autorin noch einmal den Blick auf ihr Thema. Ohne das fremde wie das eigene Leid zu schmälern, stehen die Demenz des Vaters ebenso wie das Schicksal von MH370 auf einmal auch exemplarisch für jede vergleichbare Lage, in der viele Menschen gefangen und in die noch mehr eines Tages geraten dürften. Haugs Buch ist der Versuch, diese Krise nicht nur zu erleiden, sondern zu verstehen. Auch um sich selbst und anderen besser Trost spenden zu können.