Rituelles Zurückblicken zum Jahreswechsel: 2023 ist noch lange nicht zu Ende
Der Mythos von Orpheus erzählt von einer Unmöglichkeit. Seine Geschichte handelt aber auch davon, wie man mit all den schlimmen Nachrichten umgeht. Das war für viele Menschen die größte Herausforderung der vergangenen Tage, Wochen und Monate, die sich zu einem Jahr auftürmen. Und das war auch schon so in dem Jahr davor.
Orpheus, der Sänger und Magier, Sohn einer Muse und eines Königs, hat seine Frau verloren. Nach dem Verlust erlebt er noch etwas Unvorstellbares: Er betritt er die Unterwelt, um seine über alles geliebte Eurydike ins Leben zurückzuholen. Es ist ein ungeheures Privileg, das die Götter ihm gewähren, und eine allzu schwere, fast boshafte Prüfung: Auf dem Weg zurück aus dem Totenreich darf er sich nicht nach ihr, die hinter ihm geht, umschauen. Er muss vorangehen und darauf vertrauen, dass sie ihm folgt. Aber die Erwartung, die Neugier ist zu stark. Er schafft es nicht. Er verliert sie ein zweites Mal, weil er die Bedingung der Götter nicht erfüllt und sich nach ihr umdreht.
So wird die Geschichte meist erzählt. Falls sie eine Moral oder Botschaft hat, dann lautet sie so: Zurückblicken ist menschlich, ja unausweichlich. Weil es Gefahr bringt, wenn man nicht zurückschaut und das Vergangene aus dem Blick verliert. Dann kann Vergangenheit sich wiederholen, so sagt man.
Der Moment des rituellen Zurückblickens ist jetzt. Zwischen den Jahren, wie sich diese seltsame, kurze Phase des Wartens auf etwas Neues nennt. Zur Jahreswende lässt man die verflossene Zeit passieren, die signifikanten Bilder, die Schlagzeilen, fokussiert auf einige wenige Daten.
Geschenk für Putin
An Silvester vor einem Jahr zog sich die Retrospektive auf den 24. Februar 2022 zusammen. An diesem Tag begann der Angriff Russlands auf das Nachbarland, die Ukraine. Unsere Welt war danach eine andere, sie ist es noch und zunehmend mehr. Auch wenn die Nachrichten von der russisch-ukrainischen Front jetzt nicht mehr immer ganz oben stehen.
Diesmal gehen alle Blicke zurück auf den 7. Oktober 2023. An dem Tag überfielen die Horden der Hamas, nach langer Vorbereitung, den Süden Israels. Sie begingen unvorstellbare Grausamkeiten und stellten sie zur Schau. Sie ermordeten über 1300 Zivilisten und verschleppten hunderte. Seitdem führt Israel in Gaza Krieg mit nie da gewesener Härte und tausenden zivilen Opfern unter den Palästinensern. All diese Bilder von Leid und sind unerträglich und verstellen den Blick nach vorn.
Zufall oder zynisches Kalkül? Die Barbarei der Hamas fiel auf den Geburtstag des russischen Diktators und Kriegstreibers Wladimir Putin. Jedenfalls hilft diese Koinzidenz dem Kreml, vom Angriffskrieg und den Kriegsverbrechen in der Ukraine abzulenken. Beides aber, Tel Aviv und Gaza, ebenso Kiew, ist naher Osten aus unserer Perspektive. Sehr nah. Die unfassbaren Ereignisse bestimmen Politik und Kunst, sie prägen das gesellschaftliche Klima. Es wird bitter gestritten über Solidarität und Lagerdenken, „Kontext“ und „Ja, aber“.
Die letzten drei Monate waren wie eine Gewissensprüfung in einer erdrückenden und auch überfordernden Nachrichtenflut: Gibt es zu wenig Empathie mit den Opfern der Hamas, und warum? Wie umgehen mit dem – vielleicht gar nicht so – neuen Antisemitismus in Deutschland? Was wurde versäumt oder toleriert? Fast alles hängt zusammen. Welche Konsequenzen hat die Kriegsführung des Hardliners Netanjahu? Was wird aus der palästinensischen Bevölkerung, wenn Israel den ohnehin schmalen Gazastreifen zerbombt?
Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben
Ingeborg Bachmann im Gedicht „Dunkles zu sagen“ (1953)
Im Rückblick, der instinktiv bereits vorausschaut, gibt es (zu) viele Fragen, man traut sich kaum, sie überhaupt zu stellen. In einer Welt, in der so viel falsch läuft, will man nicht auch noch etwas Falsches sagen. Die Worte scheinen plötzlich an Gewicht gewonnen zu haben. Auf Außenspiegeln steht bei amerikanischen Autos häufig der Satz: „Objects in mirror are closer than they appear“. Ein Sicherheitshinweis, der jetzt auch für den öffentlichen Diskurs gilt. Das Bedrohliche ist näher, als es den Anschein hat.
Und es gibt nichts, das nur in der Vergangenheit liegt. Im Rückspiegel ist alles Gegenwart, schmerzlich, unerträglich. Und es ist Zukunft. Orpheus verliert eine gemeinsame Zukunft mit seiner Frau, weil er den Blick nicht geradeaus halten kann. Doch wie soll er sich nicht um sie sorgen, die aus dem Hades zurückgeholt wird ans Licht? Auch für einen Liebling der Götter fällt es schwer, an ein Wunder zu glauben.
Und Wunder bräuchte es jetzt reichlich. Denn immer brennender, drängender wird die Frage: Kann es Frieden geben? Lassen die schlimmen Nachrichten irgendwann wieder nach? „Aber wie Orpheus weiß ich / auf der Seite des Todes das Leben“, heißt es in einem Gedicht der jungen Ingeborg Bachmann. Ein Keim Hoffnung?
Covid, Krieg und Fußball
Ist es nicht merkwürdig, dass im Grunde jede gute Nachricht auf einer schlechten fußt? Ein harmloses Beispiel: Was wäre, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2024 zu Hause glänzte oder gar den Titel gewänne? Hintergrund dieser Sensation wären all die Pleiten der letzten Jahre. Besonders schön kann es nur werden, weil der sportliche Vorlauf so mies war.
Oder etwas heftiger: Covid hat sich für die Mehrheit zwar nicht erledigt, aber eingeordnet. Derzeit erkranken viele an dem Virus, der Verlauf ist in der Regel mild, vergleichsweise. Weltweit hat die Pandemie Millionen Menschen umgebracht. Jetzt wirken die Impfungen, das Virus hat seinen Schrecken verloren. Wie gut diese Nachricht war und ist, wird vielleicht gar nicht ausreichend wahrgenommen. Auch weil gleich darauf der russische Krieg nach Europa kam mit dem Ziel, die Ukraine als selbstständigen, demokratischen Staat auszulöschen.
Immer mehr Radikale
Ende November schwiegen wenige Tage lang in Gaza und Israel die Waffen. Das waren Nachrichten von sehr kurzer Dauer, kaum Entspannung. Kommt es im neuen Jahr, das sich schon a priori ziemlich gebraucht anfühlt, zu einem anhaltenden Waffenstillstand? Das Dilemma bleibt: Die israelische Regierung will die terroristische Hamas eliminieren. Werden mit Bombardement und Abriegelung nicht immer mehr Palästinenser in die Arme der Hamas-Verbrecher getrieben, die das wohl genau so vorausgesehen haben?
Immer mal wieder heißt es, dass hinter den berühmten Kulissen verhandelt wird – konkrete Ergebnisse scheinen himmelweit entfernt. Es wäre die gute Nachricht, auf die wir warten – ein haltbarer Ausgleich zwischen festen Fronten. Auch zwischen Russland und der Ukraine.
Allerdings wird 2024 nicht nur in den USA, Taiwan, Südafrika und Indien gewählt, sondern auch in Russland. Was man dort wählen nennt. Auch die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen an. Und Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Rechtspopulisten erwarten vielerorts historische Ergebnisse. Es könnte ein annus horribilis werden. Oder ein Jahr der Wende. Vermutlich irgendetwas Kompliziertes dazwischen.
Triumph der Populisten?
Man will zum Jahreswechsel keinen Fatalismus verbreiten, aber in den USA gibt Donald Trump den Ton an. Seine erste und hoffentlich einzige Amtszeit bleibt als schier endloser Alptraum in Erinnerung. Wirklich? Viele US-Bürger zeigen sich unzufrieden mit Präsident Biden. Sie wählen ihn dann unwillig oder gehen möglicherweise nicht zur Wahl. Trump lebt vor, dass schlechte News gute News sind. Prozesse, Verurteilungen, gerichtliche Schweigegebote, Pleiten und immer wieder neue Anklagen gegen den Ex-Präsidenten: Der Monsterkult ernährt sich davon. Bis er doch eines vielleicht nicht mehr so fernen Tages daran erstickt.
Verstoßen zu viele gute Nachrichten gegen ungeschriebene Gesetze der medialen Welt? All the news that’s fit to print: Der alte Leitsatz der „New York Times“, 1897 in einer Zeitungskrise formuliert vom Verleger Adolph S. Ochs, zielt auf seriöse Reportage und umfasst in der Praxis natürlich vor allem schlechte Nachrichten. Seit Jahren bedeutet das eine sehr hohe Trump-Schlagzahl, was wie unbezahlte Werbung wirken kann. Doch mit der Unterdrückung schlechter Nachrichten kommt man auch nicht weiter.
In der klassischen Tragödie gibt es die Technik der Mauerschau. Nachrichten vom Kriegsgeschehen werden durch einen Beobachter übertragen. Er sieht etwas, was das Publikum nicht sieht. Das kann den Schrecken der Nachricht mildern, aber auch vergrößern. Der Bote aus Marathon, der die Nachricht vom Sieg über die Perser nach Athen bringt, stirbt darauf an Erschöpfung. Er hat alles gegeben, sein Leben, um das Medium der guten Nachricht zu sein. Diese Geschichte ist eine Erfindung späterer Jahrhunderte. Sie dient dem Mythos und der Hebung der Moral und erinnert daran, dass sowohl Russland als auch die Ukraine Erfolgsmeldungen verbreiten, die nicht unabhängig zu überprüfen sind.
Noch einmal zurück: Die gute und die schlechte Nachricht fallen bei Orpheus zusammen, die allzeit bewegende Geschichte löst sich nicht einfach auf. Die mythologisch-menschliche Figur folgt einer schmerzhaften Dialektik und letztlich einem notwendigen Impuls: Orpheus will Gewissheit, Sicherheit. In der Bewegung des Zurückschauens und Umschauens steckt auch das Umwenden, die Wende – damit das Leben in eine andere Richtung weitergehen kann.