Kenenisa Bekele will auf hohen Sohlen zum Weltrekord laufen

Selbst auf Pressekonferenzen ist man nicht immer sicher vor den eigenen Fans. Als Kenenisa Bekele am Freitag den Konferenzraum eines Hotels in der Budapester Straße in Berlin betritt, blickt ihn ein Mann aus der vorderen Sitzreihe beklemmend lange an. Erst als der Äthiopier Platz genommen hat, traut sich der Mann, Bekele nach einem gemeinsamen Foto zu fragen. Der hebt seinen Daumen, während sich um ihn herum die Kameraleute für den ersten Schnappschuss positionieren. Vielleicht gehen diese Bilder nicht nur durch die Berliner Medien, sondern um die ganze Welt.

Bekele ist ohne Zweifel der spannendste Läufer des am Sonntag stattfindenden Berlin-Marathons, er ist ein potenzieller Weltrekordläufer. Doch Bekele ist auch: „eine Sphinx“. Das sagt einer der besten deutschen Langstreckenläufer in den 1980er-Jahren. Herbert Steffny gewann dreimal den Frankfurt-Marathon, wurde Dritter beim New-York-Marathon.

Das Laufen hat den 68-Jährigen bis heute nicht losgelassen. Er reist zu den größten Rennen, schreibt Artikel und Bücher darüber. Es gibt wenige Menschen in Deutschland, die so viel vom Marathon verstehen wie er. Vor Kenenisa Bekele habe er größten Respekt. „Was der schon alles gewonnen hat, wie viele Rekorde der schon gelaufen ist, er ist zweifellos einer der größten aller Zeiten“, sagt Steffny. Aber ein neuer Weltrekord am Sonntag?

Mit Blick auf das Wetter: auf jeden Fall. Am Sonntag soll es in Berlin angenehm warm, angenehm trocken und angenehm windstill sein. Aber mit Blick auf den Ausnahmeläufer selbst: nicht unbedingt. „Bekele ist gerade im Vergleich zum aktuellen Rekordhalter Eliud Kipchoge ein unsteter Läufer. Er ist manchmal unkonzentriert, hat Hänger“, erzählt Steffny. „Aber er hat eben vor zwei Jahren den Weltrekord in Berlin nur haarscharf verpasst.“

Bekele hat zwei Jahre kein Marathon-Rennen mehr bestritten

In 2:01:41 Stunden war der damals 37-Jährige ins Ziel gelaufen und nur lächerliche zwei Sekunden über dem bis heute geltenden Weltrekord von Kipchoge geblieben. So herausragend die Leistung Bekeles auch war, so groß war auch das Drama, dass er den Rekord über 42,195 Kilometer um eine Winzigkeit verpasst hatte.

Die Frage ist nun, ob Bekele seine Form halten respektive verbessern konnte. Und da gibt es Zweifel. Zwei Jahre hat Bekele wegen der Corona-Pandemie keine Marathon-Rennen mehr bestritten. Auch größere Trainingslaufgruppen blieben ihm verwehrt. Hinzu kommt das Alter. Bekele ist inzwischen 39 Jahre alt. Man müsse sich darüber keine Sorgen machen, versichert Bekele auf der Pressekonferenz. „Ich fühle mich gut.“

Steffny hat seine Zweifel. „Ich kenne es von mir selbst. Mit 37 bin ich noch gute Zeiten gelaufen. Mit Ende dreißig kam dann ein Knick.“ Der Kopf habe sich dagegen gewehrt, aber der Körper habe irgendwann nicht mehr so gewollt, erzählt er. Umso überraschender ist es, dass Bekele trotz seines Alters auch am New-York-Marathon teilnehmen will, der nur sechs Wochen nach dem großen Lauf in Berlin angesetzt ist. Top-Läuferin meiden in der Regel eine derart dichte Aneinanderreihung von Marathons. Ein solcher Lauf erfordert viel Regeneration.

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Geht es Bekele um die Startgelder nach langer Pause, oder befindet sich der Läufer bereits auf einer Abschiedstournee? „Nein, es ist noch nicht vorbei“, sagt er am Freitag. Er freue sich auf die Herausforderung am Sonntag. Das Wort Weltrekord nimmt er dabei nicht in den Mund. Zu wenig weiß er offensichtlich nach der langen Pause über seinen eigenen Körper. Er sei einfach nur froh, wieder Rennen bestreiten zu können. „Wie so viele Menschen hatte auch ich eine harte Zeit“, erzählt er. „Ich habe mich mit Covid infiziert und konnte lange an keinen Rennen mehr teilnehmen.“

Zusammengefasst spricht ziemlich wenig dafür, dass am Sonntag ein neuer Weltrekord bei den Männern aufgestellt wird. Auf der anderen, sagt Steffny, „hat Bekele durch die Pause vielleicht wieder mehr Saft in den Knochen“. Auch mental könne eine Pause große Vorteile bringen. „Man hat dann wieder richtig Biss als Läufer.“

Für Spitzenzeiten sprechen auch die Laufschuhe. In den vergangenen Jahren hat hier eine große Entwicklung stattgefunden. Hochsohlige Schuhe mit verbauten Carbonplatten entlasten die Muskulatur. „Sie bringen uns einen großen Vorteil im Vergleich zu früher“, sagt Bekele.

Insofern ist es zumindest noch nicht komplett ausgeschlossen, dass der Wunderläufer Bekele am Sonntag die Weltrekordzeit von Eliud Kipchoge reißen wird. „Kipchoge“, sagt Steffny voller Bewunderung, „liefert eigentlich immer ab.“ Bei Bekele dagegen wisse man einfach nicht, woran man sei. „Aber gerade das macht diesen großen Läufer aus.“