Grüße an die Clowns
Es ist ein Stoßgebet, ein Aufschrei: „Prayer for Amerikkka“. Das Stück aus Jaimie Branchs zweiten Studioalbum mit dem Titel „Fly Or Die II: Bird Dogs Of Paradise“ kommt gleich zu Beginn ihres Konzerts im Berliner Kesselhaus. Es handelt von einer verwundeten Nation, ausgelaugt von den Trump-Jahren, zerfressen vom anhaltenden Rassismus.
Es ist ein Amerika, das sie mit drei K schreibt, wie schon der Gangsta-Rapper Ice Cube in einem seiner Alben. Die drei K stehen für den Ku Klux Klan. Branch beschwört ihr Heimatland, wieder in die richtige Spur zu finden. Ihre Mitmusiker Lester St. Louis am Cello und Jason Ajemian am Kontrabass erschrubben einen Klangteppich, Drummer Chad Taylor klöppelt sich langsam warm.
Musikalisch sozialisiert wurde sie in Chicago
Und dann setzt Jaimie Branch endlich die Lippen an ihre Trompete und feuert die ersten Tonsalven ab. Unterlegt mit extra Hall, was sie noch eindringlicher wirken lässt. Und allen im Raum ist nun klar, dass sie hier einem wirklich besonderen Jazzkonzert beiwohnen. Aber niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass sich am Ende des fast zweieinhalbstündigen Auftritts alle von ihren Stühlen erheben werden, zu tanzen beginnen und unter Anleitung der Musikerin gemeinsam singen werden: „This is a song for assholes and clowns.“
Das ist der Höhepunkt einer aufregenden Reise, geführt von einer Frau, die ein echtes Unikat ist und das nicht nur für Jazzverhältnisse. Branch wurde in New York geboren, zog dann mit ihrer Familie nach Chicago, wo sie in die vibrierende Jazzszene der Stadt eintauchte.
Sie hatte nebenbei auch ein Ohr für Punk und Indierock, Chicago hat musikalisch ja so einiges zu bieten. Einfach war ihr Weg nicht, jahrelang war sie heroinabhängig. Sie zog zurück nach New York und vor vier Jahren veröffentlichte die heute 38-Jährige ihr Debütalbum. Seitdem gehört sie zum Kreis rund um das Chicagoer Label International Anthem, das wie kaum ein anderes dafür steht, den Geist des Aufbruchs zurück in den Jazz gebracht zu haben.
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Branchs Markenzeichen ist eigentlich der Trainingsanzug, als sei sie eine spätgeborene Grungemusikerin. In Berlin trägt sie aber eine Art übergroßen Regenmantel über einer Schlabberhose, die anderen selbst während des krassesten Lockdowns daheim auf dem Sofa zu schlabberig gewesen wäre. Auf dem Kopf hat sie irgendetwas hutartiges. Sie wirkt damit fast als würde sie in Brooklyn unter der Brücke schlafen.
Und spielt doch diesen betörenden freien Jazz. Nicht unbedingt Free Jazz, sondern einfach nur von allen Konventionen befreite Musik. Sie singt viel, gibt ihren Mitstreitern auf der Bühne viel Raum, sich zu entfalten; um dann ihre Trompetentöne wie Nadelstiche zu setzen. Mal erinnert das an Miles Davis, mal an einen Mariachi-Spieler. Es steckt so viel in der Musik, auch Blues, HipHop, lateinamerikanische Musik, alles verschmilzt hier in einem schier endlosen Strom.
Irgendwann fängt Branch an, auf die Interventionen ihres Trios zu antworten, indem sie mit ihren Sneakern auf dem Boden herumquietscht. Auch das ist für sie Jazz. Und am Ende, wie gesagt, werden die Liebesgrüße an die Arschlöcher und Clowns versendet. Mitgemeint dürfte sich sicherlich ein gewisser ehemaliger US-Präsident fühlen.