Die Abenteuer des Prinzen Genji
Blut strömt, als würde ein Vulkan ausbrechen. Aus dem Hals des feuerroten Dämons, seinen Arm- und Beinstümpfen sprudelt es nur so heraus. Das abgetrennte Haupt zeigt immer noch das böse Grinsen und die gebleckten Zähne. Doch die Heldentat ist vollbracht. Shuten Doji ist erledigt, General Raiko und seine Begleiter, die „Vier Himmlischen Könige“, haben ihre Mission erfüllt.
Der durch zu viel Sake-Genuss in ein Monster verwandelte Tempeldiener wird keine Frauen mehr verspeisen und deren Blut saufen. All das ist in feinster Manier auf bis zu 2300 Zentimeter lange Querrollen gemalt, ein Bild folgt auf das andere: von der Kindheit des Shuten Doji und seinen Gräueltaten bis hin zum eigenen fürchterlichen Tod.
Als eine japanische Forschergruppe in Begleitung der Heidelberger Kunsthistorikerin Melanie Trede die sechs Rollen der Edozeit vor zwei Jahren im Depot des Leipziger Grassi-Museums entdeckte, waren sie elektrisiert.
Die Geschichte des Ibukiyama Shuten Doji
Das Set stammt aus einer Schenkung des zwischen 1877 und 1882 in Kyoto praktizierenden Arztes Botho Scheube, der auf Einladung des Kaisers nach Kyoto kam. Statt auf Papier war „Die Geschichte des Ibukiyama Shuten Doji“ auf Seide gemalt, jede Rolle vom Künstler signiert, was selten ist. Die Rollen waren als Mitgift für eine Prinzessin bestimmt.
Zum ersten Mal kann der gehobene Schatz nun im Zürcher Rietberg-Museum in der Ausstellung „Liebe, Kriege, Festlichkeiten – Facetten der narrativen Kunst aus Japan“ bewundert werden, Melanie Trede ist Co-Kuratorin der am Haus von Khanh Trinh eingerichteten Schau. Die aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammenden Rollen mögen darin eine ganz besondere Entdeckung sein, die Ausstellung aber ist es insgesamt.
Erstaunlicherweise wurde in Europa dem Genre des Narrativen – ob auf Querrollen, Textilien, Vasen, Fächern oder Lackbehältnissen – mit Sonderausstellungen kaum Aufmerksamkeit gewidmet, eher waren Zen und buddhistische Kunst, japanische Farbholzschnitte und ihr Einfluss auf westliche Künstler Themen.
Der Grund: Die großen historischen Romane – die Taten des Shuten Doji und Abenteuer von Prinz Genji oder die Geschichte der Ise – kennt man hier kaum. Ihre präzise Übersetzung der klassischen Literatur bereitet zu große Schwierigkeiten.
Geschichten für Hofdamen und Krieger
Mit den Texten aber sind die Bilder verbunden, die sonst nicht zu verstehen sind. Das Rietberg Museum öffnet nun ein ganzes Füllhorn, denn die Motive der Erzählungen haben sich über die Jahrhunderte immer weiter fortgesetzt. Sie gelangten ins Kabuki- und Puppentheater, von dort wieder zurück auf Alltagsgegenstände, wurden als Farbholzschnitte aufgelegt und erreichten mit der Erfindung des Buchdrucks auch das breite Publikum. Der Bilderbogen zieht sich vom 13. bis ins 20. Jahrhundert.
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„Liebe, Kriege, Festlichkeiten“ erzählt zugleich von den gesellschaftlichen Veränderungen Japans. Während die amourösen Abenteuer des schönen Prinzen Genji Anfang des 11. Jahrhunderts von einer Hofdame zur Unterhaltung der Hofaristokratie erfunden wurden, richtete sich das Heldenepos rund um den Shuten Doji eher an die Kriegerkaste, die ab dem 12. Jahrhundert an den Schalthebeln der Macht saß und Schlachtengeschichten hören wollte. Das ab dem 18. Jahrhundert erstarkte Bürgertum verwandelte sich auf seine Weise die Geschichten an, indem es den Protagonisten zeitgenössische Frisuren und aktuelle Mode verpasste.
Zu allen Zeiten gehörte es zum guten Ton, die einzelnen Szenen der Epen zu kennen. Davon zeugt ein besonders entzückendes Exponat: ein Muschelspiel aus dem Museum für Orientalische Kunst in Venedig mit Szenen aus höfischen Erzählungen der Edo-Zeit, eine Vorform von Memory. Die Spielenden mussten zu jeder Muschelhälfte, auf deren Innenseite Prinz Genji vor Goldgrund agiert, das Pendant finden. Im 18. Jahrhundert wurde das Spiel als Mitgift für die Braut populär. Bis heute haben sich bestimmte Motive daraus im kollektiven Gedächtnis erhalten.
Efeuranken auf einer Picknick-Box
Wer einen Sumpf mit blühenden Schwertlilien und darüber im Zickzack führende Brücken etwa auf einem Schwertstichblatt sieht, sollte sie den Geschichten von Ise zuordnen können. Noch heute wissen viele in Japan darum. Schwieriger wird es allerdings bereits bei den Ahornblättern und Efeuranken auf einer Picknick-Box samt Sake-Behälter in Gestalt eines aus Bambus geflochtenen Rucksacks.
[Rietberg-Museum, Zürich, bis 5.12. bzw. 31.1.; Katalog 49 CHF.]
Sie sind wiederum Schlüsselelemente einer Episode, in der eine Bergwanderung vorkommt. Zu den Prunkstücken der Ausstellung gehört ein weiteres Hochzeitsgeschenk, eine Brautsänfte aus dem Musée des Arts Décoratifs in Paris, ebenfalls aus der Edo-Zeit. An den vergoldeten Innenseiten befinden sich Szenen aus der Genji-Legende. Zu sehen sind junge Kiefern, die als immergrüne Pflanzen zugleich auf langwährendes Glück verweisen.
Die Techniken des Manga
Die spezifische Verbindung aus Text und Bild ist auch typisch für den Manga, der als Erzählform ebenfalls aus Japan kommt. Seine große Zeit beginnt nach 1945 mit den aufkommenden Comicstrips in Zeitungen. Heute sind sie eines der populärsten Medien und haben in Japan das gedruckte Buch überholt. Ihren Ursprung haben Mangas trotzdem nicht unbedingt in der narrativen Kunst früherer Generationen, die sehr viel elaborierter ist.
Sie besitzen ihre eigene Dramaturgie. Die ergänzende Ausstellung „Flow – Erzählen im Manga“ erklärt, wie die Technik funktioniert, welche künstlerischen Praktiken es gibt, Paneele oder Bildausschnitte, um den Erzählfluss zu dynamisieren. Oder worin sich Mangas für Mädchen und Jungen unterscheiden, zumindest in früheren Zeiten. Nicht ganz überraschend: Mangas für Mädchen sind sehr viel gefühliger und visualisieren stärker die Emotionen der Protagonisten.
Das Rietberg-Museum bringt hier clever die Generationen zusammen. Erzählt wird die aktualisierte Geschichte des Dachshundes Tanuki, ursprünglich eine Fabel aus dem 15. Jahrhundert. Aus dem Gedichtstreit ist ein Hiphop-Wettbewerb geworden. Statt nach dem verlorenen Kampf geläutert ins Kloster geschickt zu werden, darf sich das junge Publikum für Tanuki ein eigenes Ende der Geschichte ausdenken. Papier und Bleistift liegen bereit. Mönch werden will heute keiner mehr.