Nonnen wollen auch nur ihren Spaß

Der Tod hat die Stadt erreicht, die Tore bleiben geschlossen. Ein Vertreter des Vatikans bittet mit seinem Tross um Einlass, Papa ante Portas. Zwar hat die Äbtissin des Theatiner-Ordens im italienischen Pescia den Bewohnern prophezeit, dass Gott sie vor der Plage verschont, aber die Macht der Männer Gottes übersteigt im 17. Jahrhundert die Weissagungen einer selbsterklärten Gemahlin des Sohnes unseres Herrn. Der Schwarze Tod zieht unaufhaltsam in Pescia ein.

Paul Verhoevens Nonnendrama „Benedetta“, ein imponierender Crossover aus seinem Camp-Klassiker „Showgirls“ und Ken Russells „Die Teufel“ (vielleicht auch nur eine Verneigung vor den Nunsploitation-Filmen Jess Francos?), erweist Cannes früh die Ehre. Der Dramaturgie tut das gut, weil sich das Festival nach einem polarisierenden Auftakt im ambitionierten Mittelmaß eingetaktet hat.

Außerdem koinzidiert der Film mit Gerüchten an der Croisette über eine wachsende Zahl von Covid-Fällen – was bei vollen Kinos und einem laxen Umgang mit der Maskenpflicht nicht verwundert. Thierry Frémaux, heißt es, soll sogar gescherzt haben, dass sein Festival vorzeitig abgebrochen werden könnte. Aber noch gibt die Leitung Entwarnung. Drei Covid-Fälle pro Tag wurden Freitag, laut dem Branchenmagazin “Variety”, offiziell bestätigt, erste Interviews aus Vorsichtsmaßnahmen allerdings auch bereits abgesagt. Ein seltsames Festival.

Glaube und Lust im 17. Jahrhundert

Als Lockdown-Film ist „Benedetta“ eine Kuriosität am Rande. Als Film über ein anderes aktuelles Problem, den Umgang der katholischen Kirche mit Sexualität, dringt der überzeugte Atheist Verhoeven allerdings auch nicht zum Kern vor. Benedetta Carlini, gespielt von Virginie Efira, gilt als erster dokumentierter Fall eines lesbischen Liebesverhältnisses hinter Klostermauern.

Wie kann eine Frau des 17. Jahrhunderts ihren Glauben an den Erlöser Jesus Christus – der Benedetta in ihren Visionen als entstellter Schlächter und bärtiger Barista-Hipster erscheint – leben und sich gleichzeitig ihrer fleischlichen Lust hingeben? „Der schlimmste Feind ist euer Körper“, begrüßt die Äbtissin Felicita (Charlotte Rampling) Benedetta. Verhoeven findet für dieses Dilemma ein einleuchtendes Objekt: eine Marienstatue, aus der die Novizin Bartolomea (Daphné Patakia) ihrer Geliebten einen Dildo schnitzt.

[embedded content]

Wer nach seinem Comebackfilm „Elle“ von 2016 befürchtete hatte, das der niederländische Agent Provocateur im arrivierten Autorenkino angekommen sei, darf beruhigt sein. An Glaubensfragen zeigt Verhoeven nicht mal vordergründiges Interesse, eher schon an Machtverhältnissen. Virginie Efira spielt Benedetta physisch und forsch, denn jedes Begehren fordert seinen Schmerz.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Eine Krankenhaus-Komödie über Frankreich

Verhoeven ist wie immer all over the place. „Benedetta“ funktioniert – bedingt – als Kritik am männlichen Blick (Jeanne Lapoirie steht hinter der Kamera), gleichzeitig zeigt sich in den Sexszenen von Efira und Patakia wieder sein unverhohlener Voyeurismus. Man kann Verhoeven auch nach 50 Jahren nur lieben oder hassen. Vielleicht ist das Ernüchternde an „Benedetta“ darum, das er uns diesmal unentschlossen zurücklässt.

Aus den mittelalterlichen Stadtmauern in die Notaufnahme, dem pandemischen Ort der Gegenwart, führt Catherine Corsinis Krankenhaus-Komödie „La Fracture“. Den gesellschaftlichen Riss, den die Französin in ihrem Wettbewerbsfilm beschreibt, markiert allerdings kein Virus, „La Fracture“ spielt während der Gelbwesten-Proteste 2018.

Im weitesten Sinne eine Arbeitsplatz-Komödie, die souverän Stimmungen und Perspektiven wechselt (zwischen überarbeiteten Pflegekräften und Patient:innen, Macron- und Le-Pen-Wähler:innen, Polizei und Demonstrierenden), beweist Corsini mit “La Fracture” in dem Chaos eine bewundernswerte Übersicht über die Räumlichkeit ihrer Geschichte; die Kamera führt wieder Jeanne Lapoirie.

Ihr Film ist dabei mehr als der Versuch, gesellschaftliche Fragen abzubilden. Die Kamera befindet sich ständig in Bewegung – genau wie ihre Dialoge, auch dank der wunderbaren Nervensäge Valeria Bruni Tedeschi. Krankenhäuser sind der soziale Brennpunkt der Gegenwart, „La Fracture“ öffnet den Blick zurück auf eine Zeit vor der Pandemie.