Festival Neue Dramatik : Politische Räume in der Schaubühne
„Alle guten Geschichten enden mit Schrecken und Tod“, sagt eines der Kinder, und wer wollte da widersprechen? Shakespeare hat es vorgemacht, und sehr viel früher schon die griechischen Tragöden: Wer ein Publikum bannen will, darf mit Mord und Totschlag nicht geizen. Das beherzigt entsprechend auch der Theatermacher Milo Rau in seiner am NTGent entstandenen Inszenierung „Medea’s Kinderen“, die zur Eröffnung des diesjährigen Festivals Internationale Neue Dramatik (Find) an der Schaubühne gastiert.
Der Mythos der Königstocher Medea, die ihre eigenen Kinder ermordet, um sich am untreuen Ehemann Jason zu rächen, ist ja sozusagen die Mutter aller Schreckgeschichten. Wobei Rau ihr einen entscheidenden Perspektivwechsel verpasst: Er lässt die Kinder selbst erzählen. Und irritierend lustvoll ihren eigenen Tod performen.
Da sind ausnahmsweise wirklich mal Triggerwarnungen angebracht, denn während der Vorstellung im ausverkauften Saal A der Schaubühne kam es gleich mehrfach zu Zwischenfällen mit nervlich angegriffenen Zuschauerinnen und Zuschauern. Durchaus nachvollziehbar. Unter Einsatz von nicht wenig Kunstblut rekonstruiert ein Ensemble aus staunenswert talentierten 8- bis 13-Jährigen einen realen Kriminalfall mit Medea-Bezügen.

© Manuel Braun
Milo Rau, der Leiter der Wiener Festwochen, beweist ja regelmäßig seine Gabe, in der Wirklichkeit die besten Theaterstoffe aufzuspüren. Hier eine Tragödie, die sich 2007 in Belgien ereignete: Eine vom Ehemann im Stich gelassene Frau schnitt ihren fünf Kindern die Kehle durch. Was auch über 2000 Jahre nach Euripides vor allem grell-misogyne Zuschreibungen nach sich zog.
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Kinder haben Freude am Makabren
Wie schon im Stück „Five Easy Pieces“ über den Marc-Dutroux-Skandal lässt Rau nun Kinder auf der Bühne den von Erwachsenen angerichteten Horror bewältigen – in einem Wechselspiel aus live hergestellten Filmszenen und smarter Theaterreflexion. Die Jüngsten gewinnen die Deutungshoheit über die Tragödie und dürfen auch der Freude am Makabren freien Lauf lassen, die Kindern oft zu eigen ist. Ein spannender Festivalauftakt.
Die aktuelle Find-Ausgabe erkundet an zehn Tagen mit Gastspielen aus Frankreich, Spanien, den USA oder Kirgisien vor allem, welche Spuren gesellschaftliche Umbrüche in unseren intimsten Beziehungen hinterlassen. Wie politische Konflikte in unsere vier Wände eindringen. Dafür stehen einerseits die Arbeiten der französisch-vietnamesischen Regisseurin Caroline Guiela Nguyen, die in diesem Jahr „Artist in Focus“ ist und mit ihrer Kompanie Les Hommes Approximatifs gleich drei Stücke nach Berlin bringt. Darunter befindet sich auch ihre neueste Arbeit „Lacrima“ über strukturelle Gewalt in einem Modehaus, das ein Kleid für die Hochzeit der britischen Prinzessin anfertigen soll.
Wie gesellschaftspolitische Schieflagen auf die einzelne Biografie durchschlagen, davon handelt auch das Singspiel „Safe House“ des irischen Dramatikers und Regisseurs Enda Walsh („Disco Pigs“), das ebenfalls am Eröffnungswochenende lief. Eine junge Frau namens Grace (Kate Gilmore) versucht in einer verlassenen Handballhalle, die Scherben ihres von Drogen, Verlust und Gewalterfahrung geprägten Daseins wieder zusammenzusetzen. Grace trägt ihre Geschichte in sehnsüchtig ausgreifenden Popballaden der Komponistin Anna Mullarkey vor, aus denen einerseits die existenzielle Einsamkeit spricht („waiting for something, expecting nothing new“), in denen aber ebenso die Frage aufschillert, ob nicht jedem noch so jämmerlich scheinendem Leben eine Grandezza innewohnt.
Genau das thematisiert – aus einer etwas geweiteten Perspektive – auch die Arbeit „Héritage“ („Erbe“) des belgischen Schauspielers Cédric Eeckhout. Der holt sich seine 80-jährige Mutter auf die Bühne, eine Friseurin und Mutter von vier Söhnen, um mit ihr durch das Fotoalbum ihrer Vergangenheit zu flanieren. Sensationen hält das Stück nicht parat, dafür überzeugt es als liebevolle Hommage an die Lebensklugheit und erfrischende Unangepasstheit der Hauptdarstellerin. Manchmal kommen gute Geschichte eben doch ohne Schrecken aus.