Das Atonal würdigt Iannis Xenakis : Musizieren nach Zahlen
Moby Dick, der Wal, taucht in Herman Melvilles Erzählung nie in Gänze auf. Im Blick des Waljägers Ahab zeigt er sich nur als amorphes Weiß, mal fragmentiert, mal als Horizont, das Schiff umzingelnd, überall zugleich. Wie eine Art Nebel aus weißem Rauschen. Moby Dick ist nie bloßes Tier, mit Kopf, Abdomen und Flossen, sondern die beinahe körperlos gewordene Verkörperung aller ahabschen Ungewissheit. Wollte man Moby Dick mathematisch fassen, müsste man mindestens die Wahrscheinlichkeitsrechnung bemühen.
Im Kampf gegen Faschisten lebensgefährlich verletzt
So gesehen steckt eine ganze Menge Moby Dick in der Musik des Komponisten Iannis Xenakis, den die aktuelle Ausgabe des Festivals Berlin Atonal mit dem Programm „X100“ ehrt – anlässlich des 100. Geburtstags des Komponisten. 1922 in der rumänischen Kleinstadt Braila zur Welt gekommen, wächst Xenakis in Griechenland auf, wo er mit 18 Jahren die faschistische Besatzung erlebt. Als Student der Ingenieurswissenschaften steht er bald bei Demonstrationen gegen die Besatzer an vorderster Front.
Das rhythmische Rufen antifaschistischer Parolen tausender Stimmen und sein plötzliches Umschlagen in chaotisches Geschrei, als die Nazis beginnen, in die Menschenmenge zu feuern, brennen sich für immer in sein Gedächtnis ein. Später wird er den Höreindruck als „Klangwolke“ beschreiben und mit der leisen nächtlichen Geräuschkulisse beim Zelten in der Natur vergleichen, wenn Abertausende ganz unterschiedlich tönender Insekten ein homogenes Hintergrundrauschen erzeugen. Wie Moby Dick, ein körperloses Ganzes, dessen einzelne Bestandteile hörend gar nicht nachvollziehbar sind.
Eben dieser Eindruck wird später auch seine Musik bestimmen: Den Klang der Massen hatte es in der Musik vor Xenakis so nicht gegeben.
Ende 1944 kommen die Briten zunächst als Befreier nach Athen. Bald zeigt sich allerdings, dass auch Churchills Truppen das Land besetzen und seine politische Zukunft bestimmen wollen. Und erneut findet sich Xenakis im Widerstand an vorderster Front wieder. Als er sich mit einer Gruppe Zivilisten in einem Gebäude verschanzt, explodiert eine britische Schrapnellgranate in nächster Nähe, enthauptet eine Freundin und zerfetzt ihm die linke Gesichtshälfte. Er verliert sein linkes Auge, den halben Kiefer und einen Teil seines Gehörs.
„Ich habe immer versucht, das Geräusch zu finden, mit dem das Geschoss mein Gesicht traf“, erzählt er in einem späteren Interview. Unter der britischen Besatzung versinkt bald ganz Griechenland im Bürgerkrieg, die Militärjunta macht Jagd auf Kommunisten und verurteilt auch Xenakis als einen von ihnen 1947 zum Tode. Der flieht gerade noch rechtzeitig nach Paris.
Als er 1974, nach dem Ende der Militärdiktatur, von der neuen griechischen Regierung begnadigt wird, ist er in Frankreich längst eine bekannte Figur des öffentlichen Lebens. Erste Berühmtheit erlangt er als Assistent des Stararchitekten Le Corbusier, für den Xenakis von 1947 bis ’59 arbeitet. Musikalisch sucht er zugleich noch mithilfe seines Lehrers Olivier Messiaen nach einer eigenen Sprache. Le Corbusier überträgt Xenakis zunehmend mehr Verantwortung, sodass der Assistent bald selbst Architekt wird.
Architektur und Musik bedingen sich
Architektonische Ideen fließen in seine auf Millimeterpapier geschriebenen Partituren ein. Gleichzeitig schlagen sich musikalische Prinzipien in der Architektur nieder. Als das Büro 1956 mit dem Bau des Philipps Pavillons zur Expo 1958 in Brüssel beauftragt wird, überlässt Le Corbusier das Projekt weitgehend Xenakis.
Der leitet die Form des Pavillons von seiner 1953/54 geschriebenen grafischen Partitur „Metastaseis“ ab, für den Innenraum entwirft er ein komplexes Lautsprechersystem, das die Besucher mit Edgar Varèses „Poème électronique“ flutet, und lässt im Eingangsbereich seine eigene Komposition „Concret PH“ tönen. Als Le Corbusier die Urheberschaft für sich allein beansprucht, kommt es zum Bruch zwischen den beiden.
Die Erfolge Le Corbusiers strahlen allerdings auch auf Xenakis ab, sodass er sich vermehrt der Musik zuzuwenden kann. Als Komponist und Lehrer wird er vor allem für seine betont mathematische Arbeitsweise bekannt, mit deren Hilfe er außermusikalische Ideen in die Musik übersetzt. Die enge Beziehung zwischen Musik und Mathematik, sagte er, sei ihm schon immer offensichtlich gewesen.
Mithilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung, Spieltheorie und dem Einsatz früher Computer formalisiert er schon um 1960 Phänomene wie die aus tausenden Einzelereignissen bestehenden „Klangwolken“ bei den antifaschistischen Demonstrationen in Athen, macht damit „stochastische Musik“. Während andere Komponierende noch mit dem Klang als fixer Eigenschaft des Instruments arbeiten, beginnt er, den Klang selbst in unzählige Einzelteile, sogenannte Grains, zu zerlegen und mit ihnen zu komponieren.
Eine Musik wie Moby Dick, ohne sich wiederholende Rhythmen, eingängige Melodien oder traditionelle Stimmführung, sondern wie ein alles umhüllendes Meeresrauschen, das auf unzählige Weisen erscheinen kann.
Als einer der ersten Künstler erschafft Xenakis immersive Gesamtkunstwerke aus Klang, Licht, Architektur und Bewegung, die auch im 21. Jahrhundert noch neu wirken und Generationen von Komponierenden prägen.Nach langer Krankheit stirbt er 2011 in Paris. Seine Überreste werden verbrannt, die Asche, gemäß seinem Wunsch, ins Meer gestreut, wo sie als eine Art gräulich weißen Rauschens um den Planeten treibt.
Zwanzig Originalkompositionen von Xenakis erklingen nun beim Berlin Atonal Festival, teilweise originalgetreu, teils in Adaptionen. Das Programm gibt mit rein Elektronischem, mit Ensemble-, wie Solowerken einen breiten Einblick in das Schaffen des Komponisten und stellt es zeitgenössischen Werken gegenüber, die von ihm beeinflusst worden sind.
Zur Startseite