Vorbild in Sachen Freiheit
Es war ein denkwürdiger Tag, der 12. Januar 1986. Acht Tage nach Wilhelm Lehmbrucks 105. Geburtstag erhielt Joseph Beuys den Lehmbruck-Preis. Es ist eine dem etherischen Energetiker gewidmete Bildhauerauszeichnung. Und der 1921 im linksrheinischen Krefeld Geborene dankte seinem 1881 auf der anderen Rheinseite, in Duisburg, aufgewachsenem „Lehrer“ mit Pathos und Bezug zu Rudolf Steiner. Dieser hatte am 17. März 1919 „An das Deutsche Volk und an die Kulturwelt“ zur Abkehr vom Überkommenen aufgerufen und verkündet: „Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche.“ Kurz vor seinem Tod hatte Lehmbruck ihn noch unterzeichnet.
Am 25. März 1919 tötete Lehmbruck sich selbst. Seine Kunst wurde nach 1918 als obsolet erachtet. Die eher gestalterische Bauhausästhetik lag in der Luft. Seine inneren Energien waren verbraucht.
Im Januar 1986 war auch Beuys schon von seinem nahen Tod gezeichnet. Durchbrüche im Dach des von Lehmbrucks Sohn entworfenen Museums für die Kunst seines Vaters erwirkten Magisches. Licht fiel einer Epiphanie gleich auf sein schädeliges Haupt. Elf Tage später starb er.
Sein „Dank an Wilhelm Lehmbruck“ ist ein Vermächtnis. Er schließt seinen Lebenskreis und ist wohl eine der demütigsten Künstlertexte der Kunstgeschichte. Neben Dschingis Khan, an dessen Grab er schon mit acht Jahren ausgestellt haben wollte, ist Lehmbruck der klarste Fixstern im „Lebenslauf Werklauf“ des selbsternannten „Schülers“. Schon in dem „Notizzettel Josef Beuys“, verfasst 1961 für seinen ersten Katalog zur Ausstellung im Haus Koekkoek in Kleve, steht zum Jahre 1938: „erste Begegnung mit Photos von Plastiken Lehmbrucks, Erlebnis!“ Die Kunst des Bergmannssohns habe den 17-Jährigen in Rindern bei Kleve dazu gebracht, nicht Naturwissenschaftler zu werden.
Wenn „wir“ die Revolution sein sollen, müssen wir uns bewegen, aufstehen, emporsteigen
In seinem Vermächtnis fragt Beuys, ob Arp, Picasso, Giacometti oder „irgendein Rodin“ ihn hätte dazu bringen können, schließlich Künstler zu werden. Seine Antwort ist eindeutig: Nein! Dies habe nur der frühvollendete Lehmbruck vermocht, dessen größte Erfolge wie die Beuys’ nach New York weisen: 1913 stellte Lehmbruck in der Armory Show aus und später schenkte Deutschland den New Yorkern einen Guss der „Knienden“. Sie steht heute als Dank für die Care-Pakete prominent in der Metropolitan Opera. Beuys bekam den Titel des „Spiegel“, nachdem seine Kunst 1979 im Guggenheim-Museum gefeiert wurde.
Die Bundeskunsthalle in Bonn und das Duisburger Lehmbruckmuseum nehmen nun diese erklärt geistige Künstlerbeziehung zum Anlass, ihren Ursprüngen auf die Spur zu kommen. Es ist die Schau über ein Schüler-Lehrer-Verhältnisses in Walter Benjamins Zeitalter „technischer Reproduzierbarkeit“. Denn es war „nur“ eine kleine Broschüre, vermutlich die des Gründungsdirektors des Duisburger Lehmbruckmuseums, August Hoff, die Beuys so nachdrücklich beeinflusste.
Verdienstvoll ikonologisch unternimmt Kuratorin Inke Maria Hahnen ihre Suche nach Aktenlage. Nur der nächste Schritt, zu präsentieren, was der Künstler intuitiv geschaffen und nicht auch noch rationalisiert gesagt hat, wird leider nicht beschritten. Die Frage, was an Lehmbrucks Kunst so wegweisend, so einzigartig ist, dass sie erwirken konnte, wofür Beuys 1986 pathetisch dankte, bleibt unausgestellt.
Bis 1910 war Lehmbruck auf den ersten Blick an Skulptur in menschlicher Form interessiert. Dann ging er ins Paris des Symbolismus, der Art Nouveau, der Ballet Russes, van de Veldes, Brancusis. Bereits der „Steinwälzer“ und „Grace“ aus seiner Düsseldorfer Studienzeit hatten sein konvertiertes Interesse angedeutet: Lehmbruck suchte weniger das skulpturale Standbild, denn Formen für Innerlichkeit – und diese in der Verlaufsform.
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Fernab deutsch-expressionistischer Drastik fand er sie in Paris. Er schafft fortan Menschenbilder für psychologische und geistige Verhalte. Er verleiht innerlichen Phänomenen Bilder. Seine „Kniende“ beispielsweise kniet nicht, sondern ist ephemer kniend. Sie kniet nicht wie Willy Brandt in Warschau oder Maurizio Cattelans „Hitler“, der sich auf den Kniefall im Jahre 1970 bezieht. Sie kniet, einer Prima Ballerina gleich, nur um sich gleich wieder zu erheben. In ihr wird Anmut Skulptur. Seinem „Gestürzten“ ist die Waffe gebrochen, nicht aber das Rückgrat. Er ist am Boden, wehrlos, nicht aber physisch zerstört oder gar leblos.
Diese Verlaufsformen stehen für die Nähe der Kunst Lehmbrucks zu der von Beuys. Rodin schuf einen „Denker“, Lehmbrucks „Emporsteigender“ ist denkend. Die frühe, verinnerlichte „Erweiterung“ des Plastischen durch Lehmbruck führt Beuys weiter zur aktionistischen. Wenn „wir“ für Beuys die Revolution sein sollen – „La revoluzione siamo noi“ – so müssen wir uns bewegen, aufstehen, emporsteigen, fortschreiten, denken, weiterzumachen. Und um das zu erwirken, muss die Betriebstemperatur erhöht werden. Sollen die verfestigten Aggregatzustände von Fett oder Stahl schmelzen, muss Hitze zugeführt werden. Gleiches gilt für die Aufweichung gesellschaftlicher Erstarrungen. Die etherisch-transitorische Kunst Lehmbrucks antizipiert mithin den aktionistisch-erweiterten Kunstbegriff Beuys’. Beuys erkannte dies wohl auch durch Steiners Worte.
[Der Autor ist Kunstwissenschaftler an der HBK Essen. Von 2009 bis 2013 war er Direktor des Lehmbruckmuseums. Die Ausstellungen in der Bundeskunsthalle Bonn und im Lehmbruckmuseum Duisburg sind bis 1. November zu sehen.]
In diesem Wandelethos liegt die künstlerische Verwandtschaft der beiden Niederrheiner. Sie ist geistig, nicht stilistisch oder formal. Beide haben nicht akzeptiert, dass das, was ist, bleiben kann, wie es ist. Die Kunst von Lehmbruck und Beuys markiert folglich Quantensprünge im Abstand eines halben Jahrhunderts: 1911 die Kniende Lehmbrucks, geschaffen in Paris, 1961, die erste Ausstellung von Beuys in Kranenburg, Ausgangspunkt seiner Weltkarriere.