Berliner Gedankenlosigkeit: Über den Umgang mit dem Mahnmal der von den Nazis ermordeten Sinti und Roma
Dani Karavan, der Schöpfer des Berliner Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, hat auf eine Glasscheibe, die den Ausgang seines „Passagen“–Denkmals für Walter Benjamin im spanischen Portbou verschließt, eingravieren lassen: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten“.
Heute, nach den systematischen Völkermorden des NS-Regimes, dürfen wir mit Dani Karavan der Formel vom „Gedächtnis der Namenlosen“ eine weitere Deutung abgewinnen. Auch wenn im Schatten des Undenkbaren und Unsagbaren eines Zivilisationsbruchs die schiere Zahl der Opfer allein zunächst ein „Gedächtnis der Namenlosen“ nahelegte, so hat sich dennoch gegen das Verschweigen und Leugnen der Täter und das von Traumata verursachte Verstummen der Überlebenden mühsam ein Wandel im Gedenken vollzogen, der sich auch in der Geschichte des Mahnmals widerspiegelt.
Durch den Frankfurter Auschwitzprozess und das Verfahren gegen Eichmann erhielten die Täter wieder einen Namen und ein Gesicht. Das war nicht nur dem Gericht zu verdanken, sondern ebenso den Opfern, die den Völkermord überlebt hatten und als Zeugen gegen sie aussagten. Doch als solche traten sie aus der Anonymität der „Namenlosen“ heraus.
Das Ende der Erzählbarkeit von Erfahrungen?
Der Resonanzraum für die Stimmen der jüdischen Opfer ist seitdem viel größer geworden. Zumal in den Geschichtswissenschaften und in der Erzählliteratur ihre Erinnerungen und Erfahrungen immer weniger als von Interessen geleitete subjektive Wahrnehmung abgewertet wurden.
Der dem Rechtssystem entlehnte Begriff der Zeugenschaft erlangte vor dem Hintergrund der Zeugenaussagen vor Gericht einen höheren Grad an Verbindlichkeit und ein existentielles Gewicht. Überlebende werden stets mit dem „Ende der Erzählbarkeit von Erfahrungen“ konfrontiert. Aber indem sie dennoch ihre unverwechselbaren Lebensgeschichten erzählen, leisten sie den wichtigsten Beitrag zum Gedenken.
Sinti und Roma sind nach 1945 der gleichen Verachtung ausgesetzt wie vor dem Ende des NS. Die Unabhängige Kommission Antiziganismus spricht daher zurecht von einer „zweiten Verfolgung“ unter den Bedingungen eines demokratischen Rechtsstaats. Diese ist nicht mit der Vernichtungspolitik der Nazis gleichzusetzen, atmet aber noch ihren Ungeist. Die Stimmen der Sinti-und-Roma-Überlebenden zählten lange wenig.
Erst in den neunziger Jahren haben sie mit ihren Lebensberichten den für ein angemessenes Gedenken entscheidenden Beitrag geliefert. Der Rückblick auf diese Entwicklung erinnert uns daran, dass der Antiziganismus eine eigene Erscheinungsform gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist. Der Antiziganismus hat auch die Herausbildung einer Erinnerungs- und Gedächtniskultur der Nicht-Angehörigen verzögert und beeinträchtigt. Die Dokumentation zur Planung und Entstehung des von Dani Karavan gestalteten Mahnmals für die von den Nationalsozialisten ermordeten Roma und Sinti in Berlin bietet dazu viel Anschauungsmaterial.
Vor dem Hintergrund der Kontinuität des Antiziganismus in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem aber im Justizwesen, in Behörden und in Schulen, ist es keine Überraschung, dass die Idee eines Denkmals für die Opfer des Völkermords an den Sinti und Roma Befremden und politischen Unwillen auslöste. Es bedurfte einer großen politischen Kraftanstrengung der Bürgerrechtsorganisationen, um diese Idee überhaupt am Leben zu halten.
Angesichts dieser besonderen Geschichte muss man fragen, ob das Gedenken an die Opfer des Völkermords ausreicht. Das soll keine Kritik am Berliner Mahnmal sein, das ich für einen der gelungensten Erinnerungsorte europaweit halte.
Es fehlt eine diskursive Ergänzung
Aber muss man nicht immer auch an die „zweite Verfolgung“ erinnern, die begann, als alles zu Ende sein sollte? Aber wie? Der gegenwärtigen Konzeption, den durchgestalteten Kernbereich des Mahnmals mit Informationen zu umstellen, deren Aufnahme von Witterungsbedingungen abhängt, betrachte ich eher skeptisch. Was fehlt ist ein Museumsort in unmittelbarer Nähe, der nicht zu dem von Dani Karavan geschaffenen Mahnmal des Schweigens in Konkurrenz tritt, sondern ihn diskursiv ergänzt. Vielleicht bietet ja gerade der U-Bahnbau eine solche Chance. Man muss das nur wollen.
Ein Jahr nach dem Ende der Arbeit der Unabhängigen Kommission Antiziganismus verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass der Blick auf die inzwischen ferne Vergangenheit des Völkermords den Blick auf die nähere und immer noch nicht aufgearbeitete jüngere Vergangenheit der „zweiten Verfolgung“ verstellt. Im politischen Raum von Regierungen, Parlamenten und Parteien will man es, so scheint es, mit dem rituellen Gedenken genug sein lassen. Ich messe das daran, dass in dem Bereich, den die Kommission als „Nachholende Gerechtigkeit“ genannt hat, auch unter der neuen Bundesregierung nichts Bemerkenswertes in Gang gesetzt worden ist.
Das offizielle Hauptstadtportal Berlins listet das Mahnmal unter der Rubrik „Sehenswürdigkeiten“ auf. Dort erfährt man oben auf der Seite, dass es auf der Strecke „Sightseeing mit dem Bus: Hop-on Hop-off Tour Berliner City“ liegt. Als Restaurant wird gleich unter der Beschreibung das „Hopfingerbräu“ empfohlen.
So sieht also der urbane Alltag einer Gedenkstätte aus, eines „Orts innerer Anteilnahme“, wie Karavan es formuliert hatte. Ich bin mir sicher, dass Berlin auf eine weniger gleichgültige und gedankenlose Weise auf eine Gedenkstätte des Völkermords aufmerksam machen könnte, auch wenn dort niemand begraben liegt oder ermordet wurde. Aber selbst in einem solchen Fall fehlt der kulinarische Hinweis nicht. Ähnlich wie bei dem Hinrichtungsschuppen Plötzensee, bei dem das Hauptstadtportal ausgerechnet auf Burger King und das Café „Monkey Mind“ hinweist. Als ob den Besuchern in Plötzensee nicht der Appetit vergehen würde.
Ich möchte diese Entgleisungen und die Unfähigkeit zu angemessenem Verhalten, mit denen jede Gedenkstätte inzwischen zu kämpfen hat, nicht weiter behandeln, sondern mich auf die ernsthaften Besucher und Besucherinnen beschränken, die das Mahnmal am Simsonweg in großer Zahl aufsuchen. Dani Karavan hat unzweideutig klargestellt, für wen er es geschaffen hat, das heißt, wer niemals in Vergessenheit geraten soll.
Ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah.
Die Holocaust-Überlebende Esther Bejerano
Aber er hat es in der Schwebe gelassen, wer sich denn „bis in alle Ewigkeit“, wie er sagte, erinnern soll. Das Mahnmal ist eine offizielle Gedenkstätte der Bundesrepublik, die die Möglichkeit eröffnet, die Opfer, die auf diese Weise von ihr anerkannt worden sind, etwa bei Staatsbesuchen, zu ehren. Aber was ist es für die Nachfolgegenerationen eines Tätervolks wirklich?
Die vergangenes Jahr verstorbene jüdische Holocaustüberlebende Esther Bejerano hat in einem ihrer letzten Gespräche mit Schülern eine allgemeine Antwort zu geben versucht: „Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah.“ Und dass dies auch für Migrantenkinder wie ihn gilt, hat der Schriftsteller Feridun Zaimoglu gerade in einem Interview zu seinem neuen Roman „Bewältigung“ hervorgehoben.
Wenn heute Schulklassen und Besuchergruppen zum Simsonweg kommen, was sie in immer größerer Zahl tun, zu einem Ort über eine für sie lange vergangene Zeit, und sie dann dem unsichtbar eingeschriebenen Szenario von Karavan folgen, kann man darin etwas Neues, Wichtiges sehen: ein Zeichen nachholender Inklusion und Empathie.
Karavan: „Ein Ort innerer Anteilnahme“
In den zehn Jahren des Bestehens war ebenfalls zu beobachten, wie das Denkmal immer mehr zu einem Ort des Totengedenkens der Sinti und Roma an ihre Angehörigen und Vorfahren geworden ist, vielleicht neben Auschwitz für deutsche Sinti inzwischen dem wichtigsten, aber nicht nur für sie.
Es ist nicht einfach, den Unterschied, besser: den Widerspruch zu ertragen zwischen den Sintifamilien, die sich zu diesem Anlass feierlich gekleidet haben und den meist nachlässig, freizügig angezogenen Jugendlichen, die vorher nicht darüber nachgedacht haben, wohin genau sie gehen werden. Aber wir wissen, dass nur die Offenheit und nicht die Exklusivität einem solchen offiziellen Ort gemäß ist.
Karavans Denkmal erfüllt zehn Jahre nach der Einweihung eine dreifache Funktion: als Ort des Gedenkens für die Nachfahren der Opfer, als Erinnerungsort für die Nachkommen der Täter und als offizieller historischer Gedächtnisort.
Das ist ein Widerspruch, der sich nur aufzulösen vermag, wenn sich im Verhältnis dieser Gruppen zueinander etwas geändert hat. Das scheint der Fall zu sein.
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