Ukrainisches Kriegstagebuch (121): Suche nach einer neuen Sprache
Im Sommer 2019 war ich in Serbien mit einer bunten Gruppe Musikerkollegen aus Frankreich, Spanien und Belgien. In diesen vier Tagen habe ich die Jungs nie ohne ihre Akustikgitarren gesehen – ob im Auto, auf dem Weg vom Flughafen, beim Frühstück und Abendessen, vor und nach dem Konzert, hörten sie nicht auf zu spielen. Der Soundtrack unserer kleinen Tour war ein mehrstündiges Rumba-, Reggae-, Ska- und Chanson-Medley.
Am warmen Juniabend saßen wir auf einer Restaurant-Terrasse in Palić, als ich einen Anruf aus Popasna bekam. Es war Anastasiia Kosodii, ukrainische Dramatikerin, die ich im Jahr davor im Studio Я vom Gorki Theater kennengelernt habe. Anastasiia war im Donbass mit dem Projekt Misto To Go unterwegs. Der Empfang war nicht besonders gut, meine Kollegen waren laut und ich versuchte, mich auf das Gespräch zu konzentrieren und mir dabei die Stadt Popasna in der Oblast Luhansk, wo ich noch nie war, vorzustellen.
Die ukrainische Kultur in Kriegszeiten
Im Sommer 2014 wurde Popasna von den pro-russischen Separatisten besetzt, wenige Wochen später wieder befreit und seitdem immer wieder beschossen. Im November 2020 war ich auch da und habe mit den Teenagers aus der Schule Nr. 1 Songs über Liebeskummer, Corona-Maßnahmen und Partyleben im Donbass geschrieben. Später haben wir in der Schulaula alle Vocals aufgenommen und danach an verschiedenen Orten in der Gegend Videos zu unseren Liedern gedreht.
Heute sitzen wir mit Anastasiia auf der Bühne des Mannheimer Nationaltheaters und sprechen über die Entwicklung des ukrainischen Theaters und der ukrainischen Musik in der Kriegszeit. Auch an Popasna erinnern wir uns – seit Mai letzten Jahres unter russischer Kontrolle, liegt die Stadt in Ruinen. Viktor Schulik, der Direktor der Schule, an der das Team von Misto To Go einige Jahre gearbeitet hat, kam im Oktober bei Bachmut im Kampf gegen die russischen Besatzer ums Leben.
Wie kann man die aktuellen Ereignisse verarbeiten?
Vor unserem Gespräch findet eine szenische Lesung von Anastasiias „Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer*innen für ein westliches Publikum“ statt. Dieser Text ist im Frühling 2022 entstanden, vorgelesen wird er heute von Annemarie Brüntjen und Alina Kostyukova. Die beiden Schauspielerinnen wirken auch bei der Inszenierung des neuen Stücks von Kosodii „Wie man mit den Toten spricht“ mit. Da ich dafür Musik schreibe, sehen wir uns in den letzten Wochen oft.
Annemarie habe ich bei den ersten Proben im Februar kennengelernt, Alina kenne ich aber schon länger, wir trafen uns 2020 im Kiewer PostPlay Theater und haben sofort festgestellt, dass wir beide aus Charkiw kommen. Seit einem Jahr wohnt sie in München und Anastasiia in Berlin.
Bei unserer Unterhaltung nach der Lesung geht es, unter anderem, um die Suche der ukrainischen Künstler*innen nach einer neuen Sprache, um die aktuellen Ereignisse verarbeiten und reflektieren zu können. Songschreiber*innen, Musiker*innen, Autor*innen – damit beschäftigt sind gerade alle Kulturschaffende, die ich kenne. Und ich bin sehr beeindruckt davon, wie es Anastasiia gelingt, über ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke zu berichten.
Die Zeilen ihrer Texte sind da genauso wichtig wie das, was sich dazwischen und dahinter versteckt. Die Pausen. Die Leerstellen. Auch in den „Acht kurzen Kompositionen“ schafft sie es oft, über Herausforderungen, Erprobungen und Tragödien im alltäglichen Ton zu sprechen, ohne emotional zu werden, zu schreien, ohne die Stimme zu erheben. Und damit auch eine andere wichtige Frage zu beantworten: Wie kann man weiterleben, während dein Leben und alles rund um dich auseinander zu fallen scheint? Und vielleicht auch – wie wird man danach leben können…
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