Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (81): Wenn mein Opa jüdische Platten auflegte

6.11.2022
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich erfahren habe, dass meine Familie jüdisch ist. Vielleicht hat man mich in der Schule oder auf dem Hof „Jude“ genannt, und ich musste meine Eltern nach einer Erklärung fragen. „Wir sind Juden“… ähmmmm… ok. Was es bedeutet, musste ich aber selbst herausfinden, und dieses Puzzle kam nur ganz langsam zusammen.

Niemand aus meiner Familie ging in die Synagoge, keiner sprach Jiddisch, obwohl ich von meinen Großeltern regelmäßig Worte gehört habe, die für meine Ohren irgendwie fremd klangen – Schlimazel, Dybyk, Schlepper… Wenn ich als Kind krank war und zu Hause bleiben musste, war mein musikbesessener Opa oft für meine Unterhaltung zuständig – er wurde zu meinem persönlichen DJ.

Er legte Platten auf, wobei er ab und an sagte: „Das hier ist jüdische Musik, pass auf.“ Was er damit meinte, wusste ich mit fünf nicht, aber die Melodien und der Klang davon sind für immer auf meiner inneren Festplatte gespeichert. Die jüdische Welt meiner Kindheit war klein und dennoch unübersichtlich.

Dass wir in der Ukraine lebten – oder eigentlich in der Ukrainischen Sowjetischen Republik, so hätte man es damals nennen sollen – wurde mir spätestens in der Schule bewusst. Im Charkiw der frühen achtziger Jahre, wo ich aufwuchs, hat man kaum Ukrainisch gesprochen.

Meine Freunde waren fast alle Juden, wobei mir das damals nicht klar war – wir haben nie darüber gesprochen, es hat sich so ergeben. Wir waren fünf, eine kleine Gang, davon vier Juden und ein Ukrainer, Viktor, der, als es mit der vierten Klasse losging, plötzlich nur noch Ukrainisch sprach.

Wir waren verwirrt und dachten zuerst, es sei ein Scherz, aber er war hartnäckig und konsequent und gab nicht auf, obwohl sein ganzes Umfeld nach wie vor russischsprachig war. Es war höchst ungewöhnlich, aber wir hatten keine andere Wahl als es zu akzeptieren. Später fiel mir ein, wie Viktor es mir einmal erzählt hatte, dass er mit fünf nach Charkiw gezogen sei und erst dann Russisch lernen musste, seine Muttersprache war Ukrainisch.

Yuriy & The Jewkrainians treten in Dresden auf.

Viel, viel später, schon nach der Schule, fing ich an, Schritt für Schritt die jüdische und die ukrainische Kultur zu entdecken, von denen ich nichts ahnte – ich las Bücher von Wassyl Stus und Wladimir Zeev Schabotinski, Mykola Chwylovyj und Issak Bashevis Singer, die im Literaturunterricht nicht mal erwähnt wurden, hörte Musik von ukrainischen Bands und die Alben der „Radical Jewish Culture“-Reihe. Nach und nach stellte ich fest, dass die Welten, die ich als parallel wahrgenommen habe, in der Tat mehrere Anlaufstellen hatten.

In den letzten Jahren gibt sich die russische Propaganda noch mehr Mühe als früher, die Ukrainer als eine Nation der Rassisten darzustellen, um ihre militärische Spezialoperation und die „Entnazifizierung“ der Ukraine zu rechtfertigen. Ich dagegen finde immer mehr Beispiele für einen intensiven Kulturaustausch zwischen den Ukrainern und ihren Nachbarn, den anderen in der Ukraine lebenden Minderheiten.

Die Entlehnungen und gegenseitige Befruchtung der jüdischen und ukrainischen Musik sind ein Gebiet, zu dem ich in den letzten Jahren viel recherchiere. Letzten Donnerstag durfte ich die Ergebnisse mit meinen Musikerkolleg*innen bei der Eröffnung der Jüdischen Kultur- und Musikwoche in Dresden präsentieren. Unser Projekt nennt sich Yuriy & The Jewkrainians. Ich hatte vor, das Publikum zu den historischen Hintergründen aufzuklären.

Die Liste der Themen in meinem Handy, die ich zwischen den Songs ansprechen wollte, wurde immer länger. Doch am Abend unseres Auftrittes ließ ich dann die Musik für sich sprechen – bei ihr vermischen sich Melodien und Sprachen so natürlich, dass man eigentlich nichts dazu sagen muss. Ich kann kaum den Tag erwarten, an dem wir dieses Programm in der freien Ukraine aufführen dürfen.

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