Jan Lisiecki spielt in Berlin: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Vorspiel – bei diesem Wort tritt Klavierschülern und -schülerinnen sofort der Angstschweiß auf die Stirn. Denn wer exponiert sich schon gerne vor einem Raum voller Eltern, die nur auf den Auftritt ihres eigenen Nachwuchses warten? Wagnerianer dagegen denken mit wohligem Schauer an „Tristan und Isolde“, denn der Bayreuther Meister hat die Ouvertüre zu seinem süchtig machenden Musikdrama mit dem deutschen Begriff Vorspiel benannt.

Präludium wiederum heißt auf Lateinisch jene Art von Musikstücken, auf das noch etwas folgt. Zum Beispiel eine Fuge, wie in Johann Sebastian Bachs berühmtem „Wohltemperierten Klavier“. Oder ein Choral oder eine Suite oder eben eine Oper. Erst Frédéric Chopin wird das Prélude 1841 als eigenständige Form etablieren, als Abfolge von Charakterstücken, Albumblättern, die wie improvisiert wirken, wie spontan aufs Notenpapier geworfene Ideen.

39 Stücke an einem Abend

Jan Lisiecki wagt es jetzt, einen ganzen Klavierabend nur mit Vorspielen zu bestreiten. Weil der 28-jährige Kanadier davon überzeugt ist, dass sich auch mit 39 Kurzwerken vom Barock bis zur Moderne ein tiefgängiges Programm gestalten lässt. Bei Chopins Opus 28, den 24 Préludes durch alle Dur- und Moll-Tonarten, gelingt ihm das mühelos.

Denn er ist fantastisch gut darin, blitzschnell von einer Stimmung zur nächsten umzuschalten: Kaum hat man Atem geholt nach dem Ende eines Stücks, ist er schon im nächsten, dessen Stimmung er ebenso sicher trifft wie die des vorangegangene. Rasantes wechselt mit Verträumtem, Feuriges mit Elegischem, als Zuhörer wird man hin und her geworfen, gerät in einen Strudel widerstreitender Emotionen.

Mit akustischem 3D-Effekt

Da wirbelt die Linke in Wellenbewegungen, ohne dass der Pianist mit Schaut-Her!-Gestus seine Virtuosität zur Schau stellen würde, dann wieder singt die Rechte eine innige Melodie, gleitet dabei aber nie ins Sentimentale ab. Selbst in den bekanntesten Stücken findet sich bei Jan Lisiecki immer ein überraschendes, fein ausgehorchtes Detail, grandios ist die Autonomie der beiden Hände, die ihm ein Spiel auf zwei Ebenen ermöglicht, mit akustischem 3D-Effekt.  

Dem Chopin-Zyklus vorausgegangen war ein erster Programmteil in Form eines Mixtapes, sechs Komponisten aus drei Jahrhunderten in wildem Wechsel. Das überzeugt dramaturgisch zunächst nicht, bleibt zu einförmig im sanften Seelengesang. Ein kräftigerer Puls wird erst im 12. Stück des Abends spürbar, beim zweiten Stück aus Rachmaninows Opus drei, gefolgt vom lustig-provokanten Bürgerschreck-Gedonner des jungen Henry Gorecki aus dem Jahr 1955, Bachs c-Moll-Präludium als wahnwitzig kreiselndem Perpetuum Mobile und Rachmaninows g-Moll-Prélude, diesem Pranken-Prachtstück alla polacca. Pünktlich zur Pause sind Pianist und Saal da endlich auf Betriebstemperatur.