Kinokrimi „In der Nacht zum 12.“: Sisyphos ermittelt

Es ist eine ungewöhnlich warme Herbstnacht, in der Clara ihrem Mörder begegnet. Sie hat mit ein paar Freunden gefeiert, als sie sich um kurz nach 3 Uhr in Saint-Jean-de-Maurienne, einem Städtchen in der französischen Alpenregion, auf den Heimweg macht.

In ausgelassener Stimmung nimmt sie mit ihrem Smartphone ein Grußvideo für eine Freundin auf, doch ihr Lachen friert ein, als plötzlich ein maskierter Mann vor ihr steht. „Wer bist du?“, kann Clara noch stammeln, bevor er ihr Benzin ins Gesicht spritzt und ein Feuerzeug entzündet. Brennend rennt sie davon und schaffte es nur bis zur Wiese eines Kinderspielplatzes.

Der Kriminalfilm „In der Nacht zum 12.“ beginnt mit zwar drastischen Bildern, aber seine Spannung entwickelt er ganz dezent und leise, ohne die genreüblichen Verfolgungsjagden und Actionszenen. Regisseur Dominik Moll, der zuletzt den Schnee-Thriller „Die Verschwundene“ nach Colin Niels Thriller „Nur die Tiere“ ins Kino gebracht hatte, zeigt die Polizeiermittlungen in größtmöglichen, fast schon dokumentarischen Realismus als Sisyphosarbeit voller Rückschläge. Sein neuer Film beruht auf dem Buch „18.3: Une année à la PJ“ der Schriftstellerin Pauline Guéna, die ein Jahr lang bei einem Kommissariat hospitieren konnte.

Entzündet hatte sich das Interesse des Filmemachers an Guénas Beobachtung, dass mancher Beamte „buchstäblich verfolgt“ werde und „besessen“ sei von einem Fall aus seiner Laufbahn, den er nicht lösen konnte. Bei „In der Nacht zum 12.“ heißt dieser Mann Yohan Vivès (Bastien Bouillon).

Der junge Aufsteiger, gerade zum Leiter des Morddezernats bei der Kripo von Grenoble ernannt, verströmt die smarte Effizienz eines Managers. Genauso verbissen dreht er nachts einsame Runden auf einer Radrennbahn. Als Komplementärfigur ist ihm der ältere Polizei-Haudegen Marceau (Bouli Lanners) an die Seite gestellt, der seine Emotionen nicht immer im Griff hat.

Zu den Standardsituationen eines Krimis gehört die Szene, in denen die Polizisten den Angehörigen des Opfers die Todesnachricht überbringen. Moll macht daraus ein intensives Kammerspiel. Nicht nur, dass Claras Mutter die Mitteilung nicht glauben will und auf die Beamten losgeht.

Auch der anfangs superprofessionell, hypercool agierende Kommissar Vivès verliert die Fassung, kann nicht weitersprechen, als sein Blick an einem Kinderfoto der Tochter im Wohnzimmerregal hängenbleibt. „Es ging nicht mehr, es war, als ob ich am Rand eines Loches stehe“, sagt er später zu Marceau. Der entgegnet: „Du hattest einen Aussetzer, das ist normal.“ Doch normal ist nichts in diesem Fall, in diesem Film.

Warum musste Clara Royer (Lula Cotton-Frapier), die nur 21 Jahre alt wurde, sterben? Weil sie Eifersucht auslöste, sich „leicht verliebte“, wie eine Freundin sagt, oft in die falschen Männer? Clara hatte in der Bowlingbahn eines Wintersporthotels gejobbt, eine Gelegenheit für den Film, die schroffe Schönheit der Berglandschaft ins Bild zu rücken.

Ihre Liebhaber reden in einer Mischung aus Eroberungsstolz und Verachtung über die Tote. Einer sieht sich als ihr „Sex-Friend“, ein anderer hat ihr nach der Trennung ein Rap-Stück gewidmet, in dem er droht, sie „abzufackeln“. Alle besitzen ein unerschütterliches Alibi.

Was den stillen Thriller „In der Nacht zum 12.“, der auf einem wahren Fall beruht, herausragend macht, ist die Genauigkeit des Blicks. Eine ähnliche Neugier für die Ermittlungsdetails kennt man aus Filmen von Dominik Graf oder der akribisch recherchierten Fernsehserie „The Wire“ über den Drogenhandel in Baltimore. Deren Autor, der ehemalige Polizeireporter David Simon, zählt zu Pauline Guénas Vorbildern.

Dominik Moll zeigt den unspektakulären Teil der Polizeialltag, der aus wortkarg verlaufenden Verhören, vergeblicher nächtlicher Tatort-Überwachung und endloser Papierarbeit besteht. Bis tief in die Nacht tippen die Beamten ihre Berichte, in der Hoffnung, dass irgendwann ein Detail darin den Täter überführen könnte.

Zum Realismus des Films gehört, dass ausschließlich Männer versuchen, den Femizid aufzuklären. Bis eine neue Untersuchungsrichterin den zu den Akten gelegten Fall nach drei Jahren noch einmal aufrollen lässt. Kommissar Vivès hat schon resigniert. „Irgendwas stimmt nicht zwischen Männer und Frauen“, konstatiert er. „Ich bin überzeugt, dass wir den Mörder nicht finden, weil wir alle sie ermordet haben.“ Trotzdem stellt er an Claras Grab eine Falle auf.

Am Ende eines Kriminalstücks bleibt ein Mord in der Regel nicht ungesühnt. Diesen Trost kann „In der Nacht zum 12.“ nicht bieten. Schon der Vorspann verweist auf die durchschnittlich 200 Tötungsdelikte, die von der französischen Polizei jedes Jahr nicht geklärt werden können. Aber der Film feiert die Hartnäckigkeit der Ermittler. Mord verjährt nicht.

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