Was sich im Nachwuchsfußball ändern muss: „Die Nachwuchsakademien sind zu Fabriken verkommen“

Herr Sen, Herr Teßmann, Sie haben das Buch „Denkfabrik Nachwuchsfußball. Wie können wir es besser machen?“ herausgegeben. Ist das eigentlich ein optimistisches Buch?
SEN: (Denkt lange nach) Das Thema ist schon sehr ernst. Aber wir haben viele Ansätze gefunden, wie man es besser machen kann. Und die Stellschrauben, die man drehen muss, sind auch nicht übermäßig groß. Daher glaube ich schon, dass es ein optimistisches Buch ist.

TESSMANN: Bei der Lektüre drängt sich dieser Eindruck vielleicht nicht unbedingt auf, aber es läuft auch vieles gut im deutschen Fußball, immer noch. Wir reden daher lieber von Reserven und Optimierungspotenzialen, anstatt von Problemen. Deswegen ist schon auch Optimismus dabei. Aber: super Frage.

Leo-Jonathan Teßmann (links) und Gora Sen haben ein Buch zum Nachwuchsfußball in Deutschland veröffentlicht.
Leo-Jonathan Teßmann (links) und Gora Sen haben ein Buch zum Nachwuchsfußball in Deutschland veröffentlicht.
© Promo

Vielen Dank. Rührt der Optimismus auch daher, dass der deutsche Fußball schon gezeigt hat, was mit guter Nachwuchsausbildung möglich ist?
SEN: Bestimmt. Aber möglicherweise ist es jetzt schwieriger als vor 20 Jahren. Der Grad der Professionalisierung hat dazu geführt, dass die Nachwuchsleistungszentren im Grunde zu Fabriken verkommen sind. Das ist ein zentraler Kritikpunkt: Das, was damals gebaut wurde, hat sich eigentlich überholt und fühlt sich dadurch ein bisschen dekadent an.

TESSMANN: Die Durchprofessionalisierung des Systems hat irgendwann einen Punkt erreicht, an dem sie vom Segen zum Fluch geworden ist. Deshalb ist es aktuell sicherlich sehr viel schwerer als rund um die Jahrtausendwende. Es funktioniert nämlich nicht mit mehr Geld, mehr Ressourcen, mehr Personal. Man muss, im Gegenteil, in einigen Punkten vielleicht eher die Rolle rückwärts machen.

Jorge Valdano, der argentinische Weltmeister von 1986, hat vor kurzem in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt: „Heute wird auf der Basis des Auswendiglernens gespielt – weil die Ausbildung von der Straße in die Akademien verlegt wurde. Die Akademien haben die durchschnittlichen Spieler besser gemacht, aber die Unterschiedsspieler schlechter. Weil alle den Ball auf die gleiche Art berühren, weil alle gleich laufen müssen.“
SEN: Wenn’s Valdano sagt… Nein, im Ernst: Das ist schon sehr gut zusammengefasst. Den Durchschnittsspielern hilft die ganze Struktur, der akademische Weg und auch der erhöhte Aufwand.

Aber?
SEN: Uns fehlen Positionsprofile. Wir haben keine wirkliche Vorstellung, wie wir unsere Außenverteidiger offensiv benutzen wollen. Wir haben keine Mittelstürmer. Und wir können die drei zentralen Positionen – Sechs, Acht und Zehn – nicht scharf voneinander trennen. Deshalb haben wir lauter unvollständige Hybridspieler, die von allem ein bisschen sind, aber für nichts mehr richtig stehen.

Und andererseits?
SEN: Fehlen uns die Freiheit und die Individualität. Die Spieler, die sich in schwierigen Momenten nicht darauf verlassen, dass es die Mannschaft löst, sondern sagen: Ich löse das. Die erfolgreichen Teams bei der WM hatten diese Spieler, die unbedingt Erste unter Gleichen sein wollen. Die Unterschiedsspieler, die sich frei entwickelt haben, weil sie eigene Entscheidungen getroffen haben und auch Fehler gemacht haben. Das wird bei uns einfach wegmoderiert. Am Ende kommt dann vielleicht ein technisch starker Spieler heraus, der weiß, wie er sich zu verhalten hat, dem aber immer das Besondere fehlt.

Der einzige Unterschiedsspieler, den Deutschland bei der WM hatte, war Jamal Musiala. Bezeichnenderweise ist er nicht in Deutschland ausgebildet worden, sondern in England. Da habe man ihm in der Jugend gesagt, er habe die „freedom to play“. Fehlt in Deutschland diese Freiheit zu spielen?
TESSMANN: Ich erinnere mich noch an einen meiner Trainer in der Jugend. Wenn einer von uns einen Pass mit dem Außenrist gespielt hat, hat er sich die Basecap vom Kopf gerissen und geschrien: „Mensch, du, lass die Außenmaucke weg!“ Wir spielen in Deutschland Fußball mit Seriosität, wollen das Spiel in die einzelnen Elemente fragmentieren. Da bleibt wenig Raum für Freiheit und Kunst. Und das zeigt sich dann schon auch auf dem Platz. Aber ich würde gern noch etwas anderes ergänzen.

Die Akademien haben die durchschnittlichen Spieler besser gemacht, aber die Unterschiedsspieler schlechter. 

Jorge Valdano, argentinischer Weltmeister von 1986

Bitte.
TESSMANN: Bastian Schweinsteiger hat nach dem WM-Spiel gegen Costa Rica bemängelt, dass die deutsche Mannschaft nicht gebrannt habe. Vielleicht kann man über den Begriff streiten, aber entsprechende Kommentare häufen sich ja: Es fehlt das Feuer, der Hunger …

… die Leidenschaft …
TESSMANN: … die Mentalität, dieses schlimme Wort. Woher kommt das? Beziehungsweise: Warum haben andere Nationen diese Qualität? Ich glaube, die Antwort findet man am ehesten in unseren Nachwuchsleistungszentren.

Was vom Auftreten der Nationalmannschaft in Katar lässt sich denn ganz konkret auf Defizite in der Nachwuchsausbildung zurückführen?
SEN: Besonders in den Spielen gegen Japan und Costa Rica waren wir nicht in allen Spielphasen aktiv und aufmerksam, geschweige denn dominant. Das sieht man ja auch in den Entstehungsgeschichten der Gegentore. Nach eigenem Ballverlust haben wir uns teilweise mit einer Durchschnittlichkeit wieder in unsere Ordnung bewegt, dass mir echt die Worte fehlen.

Nationaler Katzenjammer. Die deutschen Spieler nach dem Vorrundenaus bei der WM in Katar.
Nationaler Katzenjammer. Die deutschen Spieler nach dem Vorrundenaus bei der WM in Katar.
© AFP/Glyn KIRK

Was meinen Sie mit Durchschnittlichkeit?
SEN: Ohne Intensität. Kein deutscher Spieler hat die Sorge, dass in solchen Szenen etwas passieren könnte. Aber wenn du so ein Spiel unbedingt gewinnen willst, hast du in jedem Moment Respekt vor der Gefahr, die dir droht. Du hast den Ball nicht, also ist der Gegner potenziell in der Lage, damit etwas zu tun. Dass in solchen Szenen Tore fallen, ist für mich dann nur folgerichtig.

Oder ein anderes Beispiel: Man hört jetzt über das deutsche WM-Quartier, dass die Nationalspieler quasi den ganzen Tag in Badelatschen und mit Badehandtuch um die Hüften rumgelaufen sind. Uns erinnert das ein wenig an die Atmosphäre in den Nachwuchsleistungszentren.

Inwiefern?
SEN: Dass dir alles abgenommen und dir suggeriert wird: Du bist hier, du hast es geschafft. Das Einzige, was du noch brauchst, ist ein komplettes Wohlfühlklima. Aber eigentlich brauchst du jemanden, der dich daran erinnert, dass du da bist, um Leistung zu bringen.

TESSMANN: Die Entwicklung in den Nachwuchsleistungszentren ist vergleichbar mit der Evolutionstheorie des Menschen. Homo Sapiens ist das, was er heute ist, weil er extrem anpassungsfähig war. Aber irgendwann haben wir dank unserer Intelligenz einen Punkt erreicht, an dem wir uns nicht mehr anpassen mussten. Wir haben angefangen, die Umwelt an uns anzupassen. Wenn wir Hunger haben, müssen wir nicht mehr jagen gehen. Wir gehen zum Kühlschrank. Wenn wir von A nach B wollen, müssen wir nicht mehr rennen. Wir fahren mit dem E-Roller. Wenn uns kalt ist, machen wir die Heizung an.

In den Akademien geht den Spielern die Anpassungs- und Widerstandfähigkeit verloren.

Leo-Jonathan Teßmann

Was dabei verloren geht, sind die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Neudeutsch: Resilienz. Das kann man auch auf die Nachwuchsakademien übertragen. Die Spieler, die dorthin wollen, sind hungrig und getrieben von Ehrgeiz. Aber in dem Moment, in dem sie ein NLZ betreten, wird ihnen dieser Hunger genommen. Wir trauen ihnen gar nicht mehr zu, anpassungsfähig zu sein oder zu werden. Da gibt es ganz banale Beispiele.

Welche?
TESSMANN: Sich im Sommer zum Training selbst etwas zu trinken mitzubringen. Wenn ich das früher vergessen habe, hatte ich eben nichts und habe gelitten. Heute füllt der Betreuer vor jedem Training 20 Flaschen auf.

Ich kenne einen U-19-Bundesligisten, da hat der Trainer festgelegt, dass die Spieler ihre Trikots selbst zu den Spielen mitbringen müssen. Was passiert? Einer der besten Spieler vergisst sein Trikot und kann deshalb nicht spielen. Von oben heißt es dann: Ab jetzt ist der Zeugwart dafür zuständig, dass beim Spiel alle Trikots da sind. Es wird also nicht erkannt, dass der Spieler, der sein Trikot vergessen hat, etwas fürs Leben gelernt hat. So etwas passiert ihm nämlich nie wieder.

Jamal Musiala verfügt über im deutschen Fußball untypische Fähigkeiten. Das liegt daran, dass er in England ausgebildet wurde.
Jamal Musiala verfügt über im deutschen Fußball untypische Fähigkeiten. Das liegt daran, dass er in England ausgebildet wurde.
© IMAGO/ActionPictures

SEN: Der Fokus liegt rein auf dem Ergebnis beziehungsweise auf der Ausbildung von Spielern für die erste Mannschaft. Das ist bei uns das einzige Paradigma. Ich habe zumindest noch von keinem anderen gehört. Zum Beispiel davon, dass das, was du in den x Jahren in einer Akademie lernst, dir auch in anderen Bereichen helfen soll.

Wir wissen doch alle, wie unrealistisch es ist, Profi zu werden. Das heißt: Du darfst die Geschichte eigentlich nicht so erzählen, wie sie bei uns erzählt wird. Denn sonst müssen 99,9 Prozent der Spieler aus den Akademien das Gefühl haben, sie haben ihre Jugendjahre weggeworfen, weil sie das Ziel nicht erreicht haben.

TESSMANN: Warum arbeiten wir denn als Trainer in einer Akademie? Wenn der einzige Antrieb ist, Fußballprofis auszubilden, dann scheitern wir kläglich. Dementsprechend sollte man sich überlegen, ob es nicht noch einen anderen, einen viel weiteren Sinn gibt.

Wir haben lauter unvollständige Hybridspieler, die von allem ein bisschen sind, aber für nichts mehr richtig stehen.

Gora Sen

Würde der deutsche Fußball denn auch in der Spitze davon profitieren?
TESSMANN: Ohne Breite keine Spitze. Und wir erleben ja gerade einen Rückgang der Breite. Immer mehr Vereine melden sich ab, immer mehr Kinder verabschieden sich aus dem Fußball. Das wird vielleicht nicht als so dramatisch wahrgenommen, weil der Fußball als populärste Sportart immer noch ein ausreichend großes Reservoir an Leuten hat.

SEN: Der Endgegner ist momentan, dass die Jugendlichen ihre Zeit anders verbringen. Der Fußball wird uninteressanter, weil er im Grunde die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft und des topakademischen Lebens kopiert und alles nur noch Survival of the fittest ist.

Ich kenne so viele Geschichten von Leuten, die fast daran zerbrochen wären, dass sie es nicht geschafft haben. Die spielen in Berlin mit 27 in der Verbandsliga und rennen immer noch mit Beratern rum, weil sie denken, sie schaffen’s noch, und weigern sich deswegen zu arbeiten. Das ist im System angelegt.

Wir spielen in Deutschland Fußball mit Seriosität. Da bleibt wenig Raum für Freiheit und Kunst.

Leo-Jonathan Teßmann

Wie müsste sich das System ändern?
SEN: Studien aus den USA zeigen, dass diejenigen, die an den High Schools Leistungssport betrieben haben, im Berufsleben überproportional häufiger in höheren und besser bezahlten Positionen einsteigen. Die Basis dafür sind die durch den Sport erworbenen Fähigkeiten. Damit ist doch vollkommen klar, dass das Ziel der Nachwuchsausbildung nicht nur heißen kann: FC Bayern, erste Mannschaft – und sonst nichts.

Aber selbst wenn man die Auswahlkriterien für die Spitze so belässt, wie sie sind: Gib den Spielern mehr Freiheiten! Lass sie eigenverantwortlich handeln! Lass sie eigene Fehler machen! Schon davon werden sie außerordentlich profitieren.

Was würden Sie konkret ändern?
SEN: Schritt eins wäre, dass man sehr schnell beginnt, die Breite wieder zu verbreitern. Fakt ist: Unsere Kinder bewegen sich immer weniger. Unsere Gesellschaft wird insgesamt immer kränker, dicker, der IQ sinkt. Wir brauchen mehr Kinder, die Sport treiben. So etwas wie Funino ist ein guter Schritt.

Eine Kleinfeldvariante, die dazu führt, dass die Spieler in den unteren Jahrgängen mehr Ballkontakte und dadurch auch mehr Spaß am Spiel haben.
SEN: Was nachhaltig etwas verändern würde, wäre eine deutschlandweite Aktion, dass der Sport und die Vereine in den Schulen stattfinden. Die Schulen haben den vollen Zugriff auf die Sportinfrastruktur des Landes, zumindest bis 16 Uhr. Bewegung muss großgeschrieben werden, es muss polysportiv gedacht werden. Dann würde vieles von ganz alleine passieren.

Das Prinzip von Funino ist einfach: Weniger Spieler und kleineres Feld bedeuten automatisch mehr Ballkontakte und mehr Spaß.
Das Prinzip von Funino ist einfach: Weniger Spieler und kleineres Feld bedeuten automatisch mehr Ballkontakte und mehr Spaß.
© imago/Zink

Und Schritt zwei?
SEN: Wäre eine Reform der bestehenden Wettkampfmodelle. Die sind alle so gebaut, dass es zum Survival of the fittest kommt. Oder besser: zum Survival of the Maturest.

Zum Überleben der Reifsten.
SEN: Man redet in Deutschland nicht über die Talente mit dem größten Potenzial. Man redet über Spieler, die aktuell am stärksten sind. Im Wesentlichen geht es um Körperlichkeits- oder Wirksamkeitsmerkmale. Eigentlich kann das nicht mehr der Mechanismus sein, zumal in anderen Sportarten und in anderen Nationen längst anders gearbeitet wird. Die Nationen, bei denen Potenzial größer geschrieben wird, haben uns im Moment alle etwas voraus.

Was machen die besser?
SEN: In anderen Ländern beschäftigt man sich mehr mit dem Spielverhalten, mit der Persönlichkeit, mit allem, was hinter den Augen und zwischen den Ohren liegt. Der übertriebene Fokus auf die Athletik im deutschen Nachwuchsfußball ist absurd, weil physische und athletische Mängel sich viel leichter beheben lassen als technische Defizite.

Man redet in Deutschland nicht über die Spieler mit dem größten Potenzial. Man redet über die Spieler, die aktuell am stärksten sind.

Gora Sen

Aber Potenzial zu erkennen ist um einiges aufwendiger, als diejenigen rauszufiltern, die besonders schnell laufen können.
SEN: Natürlich ist das aufwendiger, aber noch lange kein Grund, es nicht zu tun.

TESSMANN: Was uns dort auch ein bisschen im Weg steht, ist unsere Tradition des Gewinnens. Wir haben keine traditionelle Vorstellung davon, was es heißt, Fußball zu spielen. Das Einzige, womit wir uns identifizieren, ist: gewinnen. Das Paradoxe ist: Einerseits beklagen wir, dass uns die Siegermentalität fehlt. Andererseits beschweren wir uns, dass es in der Junioren-Bundesliga schon um zu viel geht und die Spieler dort nicht frei spielen können. Wir müssen diese Tradition aufbrechen, die sich überall bemerkbar macht.

Wo genau?
TESSMANN: In Skandinavien wachsen Jugendliche eher polysportiv auf. Erling Haaland zum Beispiel war als Kind erfolgreicher Leichtathlet und hat noch mit 14 nicht nur Fußball, sondern auch Handball gespielt. Wie ist es bei uns in Deutschland? Häufig wird früh angefangen mit Fußball und dann nur Fußball gespielt. Warum? Wenn ich mit einer U 9 von Hertha zum Turnier nach Stuttgart fahre, dann muss ich natürlich auch gegen die U 9 von Bayern gewinnen.

Ich muss mich als Trainer mit Erfolgen profilieren, damit ich auf der Karriereleiter emporsteigen kann. Deshalb kann ich es mir nicht erlauben, da mit einer Mannschaft anzutreten, die vielleicht noch gar nicht so viele Trainingsstunden im Fußball hatte und deshalb 0:6 verliert. So finden sich im Laufe der Ausbildung ganz viele Punkte, die auf diesen Traditionsgedanken zurückzuführen sind und die am Ende dazu führen, dass wir dort, wo Leistung am Ende wirklich gefragt ist, paradoxerweise doch nicht erfolgreich abschneiden.

In den englischen Akademien werden die Spieler ständig gegeneinander in den Ring geschickt. Deshalb haben die Engländer so viele Duellspieler. So einfach ist das. 

Gora Sen

Wir sind also nicht deshalb nicht erfolgreich, weil die Siegermentalität fehlt, sondern weil die Qualität fehlt.
TESSMANN: Genau. Das Belohnungssystem spielt auch eine wichtige Rolle. In vielen Nachwuchsleistungszentren ist es so, dass der U-19-Trainer ein Vielfaches von dem verdient, was der U-12-Trainer bekommt – obwohl der U-12-Trainer nicht weniger Verantwortung hat und auch nicht weniger Aufwand.

Solange es so ist, wird der U-12-Trainer immer U-15-Trainer werden wollen. Und der U-15-Trainer immer U-19-Trainer werden wollen. Und wie kann man sich dafür empfehlen? Über Ergebnisse. Wir haben gar nicht die Muße, aufs Potenzial zu schauen. Weil es uns kurzfristig nichts bringt. Wir müssen ja jetzt, am nächsten Wochenende, unbedingt gewinnen.

SEN: Wir haben aus dem Fußball einen reinen Marktplatz gemacht. Er ist eine Industrie geworden, und alle verhalten sich auch so. Du guckst auf die kurzfristigen Ergebnisse und machst Kinder und Jugendliche zu einer Ware. Wir haben so viele Drei-Sterne-NLZ in Deutschland, und gleichzeitig stellen wir fest, dass die Qualität der Spieler, die wir dort entwickeln, gelitten hat.

Mit Wucht. Mittelstürmer wie Niclas Füllkrug werden im deutschen Fußball gerade verzweifelt gesucht.
Mit Wucht. Mittelstürmer wie Niclas Füllkrug werden im deutschen Fußball gerade verzweifelt gesucht.
© IMAGO/Eibner International

Seit Jahren wird geklagt, dass uns Spieler für bestimmte Positionen fehlen, der klassische Mittelstürmer zum Beispiel. Trotzdem tut sich nichts.
SEN: Bei der WM haben die Analysten der Fifa festgestellt, dass die Mannschaften beim Spielaufbau sehr pragmatisch sind. Sie spielen kurz und flach, wenn sie es können. Wenn es nicht geht, werden die Linien einfach überspielt. Dafür brauchst du diesen Zielspieler, der einen großen Schatten wirft und einen Ball festmachen kann, damit andere nachrücken können.

Wir spielen diesen langen Ball von hinten nicht. Wir haben stattdessen Spielströme, die um die Neun herumgeflossen sind. Aber jetzt haben wir festgestellt: Uns fehlt was. Also schauen wir, was sich daraus ableiten lässt. Wir bilden immer ein bisschen tendenziös aus. Es wird das eine gemacht, dafür wird etwas anderes geopfert.

Wie sähe die Lösung aus?
SEN: Es gibt im Fußball zwei Grundzustände: Deine Mannschaft hat den Ball. Und deine Mannschaft hat nicht den Ball. Daraus leiten sich für die einzelnen Positionen Rollen ab. Das Schöne ist: Wenn der eine Zustand ist, ist der andere auch. Denn wenn die eine Mannschaft den Ball hat, hat die andere ihn nun mal nicht. Dazu kommen noch die Phasen nach eigenem Ballverlust und eigenem Ballgewinn.

Und am Ende gewinnen immer die Spanier. So wie hier die U 19 von Real Madrid nach ihrem Sieg in der Youth League gegen Rasenballsport Leipzig.
Und am Ende gewinnen immer die Spanier. So wie hier die U 19 von Real Madrid nach ihrem Sieg in der Youth League gegen Rasenballsport Leipzig.
© IMAGO/Karina Hessland

Wenn wir früh und in der Breite anfangen, in allen Spielphasen zu denken und so auch zu trainieren, könnte das zu viel mehr Wissen führen. Wissen und Können. Da sind andere Länder mit anderen Fußballtheorien etwas weiter. Nehmen wir die Spanier. Egal in welchem Jahrgang, egal in welchem Wettbewerb: Gegen die Spanier verlieren wir fast immer. Du spielst gegen andersartige Fußballspieler und bist einfach unterlegen. Du kriegst den Ball nicht.

TESSMANN: Deshalb ist auch die Youth League aus deutscher Sicht so ein Trauerspiel. Wir sind dort mit Mannschaften vertreten, die nicht nur sündhaft teuer, sondern auch gespickt mit U-Nationalspielern sind. Aber trotzdem ist für unsere Teams nichts zu holen. Dort zeigt sich, dass ein harmonischeres, gesünderes Berücksichtigen aller Spielphasen der fußballerischen Ausbildung guttut.

Hermann Gerland hat vor der WM beklagt, dass man in der Ausbildung kein Eins-gegen-eins mehr übe. Und wenn man es im Sturm nicht übe, übe man es zwangsläufig auch nicht in der Abwehr.
SEN: Gehen Sie mal in einer regulären Trainingswoche in Berlin über die Plätze der leistungsorientierten Vereine und schauen Sie sich von der U 15 bis zur U 19 alles an: Wie wenig Eins-gegen-eins, Zwei-gegen-eins oder Drei-gegen-drei da stattfindet, das ist erschreckend. Der Kern des Spiels ist aus der Mode gekommen. In den englischen Akademien werden die Spieler dagegen ständig gegeneinander in den Ring geschickt. Deshalb haben die Engländer so viele Duellspieler. So einfach ist das.

TESSMANN: Verstehen Sie uns nicht falsch. Dieses Wissen ist überall vorhanden. Das steckt auch in den Akademien. Die Trainer und Funktionäre wissen, was richtig ist. Oder richtig wäre. Aber es kann nicht immer vermittelt werden. Es gibt einen schönen Spruch: Kids don’t learn from people they don’t like. Kinder lernen nicht von Menschen, die sie nicht mögen. Da sind wir beim nächsten Punkt. Dadurch, dass wir mit Kindern und Jugendlichen wie mit einer Ware umgehen, fällt dieser Beziehungsaspekt weg.

Die Spieler haben ganz viel Informationen, aber nur wenig Inspiration. Das sieht man auch auf dem Platz. 

Leo-Jonathan Teßmann

Was bedeutet das?
TESSMANN: Was bewegt denn eigentlich einen U-15-Spieler von Hertha BSC zu RB Leipzig zu gehen? Und zwei Jahre später von Leipzig zu Bayern München? Das sind alles Drei-Sterne-Akademien. Da gibt es in der Ausbildung keine großen Unterschiede. Das Einzige, was passiert: Du erhöhst deinen Wert. In Anführungsstrichen. Aber das machst du nur, wenn du keine enge Bindung aufgebaut hast.

Und Trainer machen es inzwischen genauso. Trainer verlassen ihre Teams schon nach einem Jahr wieder oder sogar mitten in der Saison, weil sie anscheinend nicht mehr so ein Verantwortungsgefühl haben für ihre Spieler. Und die Spieler? Die haben ganz viel Informationen, aber nur wenig Inspiration. Das sieht man auch auf dem Platz.

SEN: Die ganze Kultur rund um den Vereinsfußball ist keine mehr. Es ist eine Unkultur geworden. Jeder will den nächsten Schritt machen. Es wäre so einfach, aus dem Wort Verein etwas abzuleiten. Aber Vereine sind nichts anderes als Zweckgemeinschaften, und das nicht mal mehr für ein Jahr, sondern nur bis zur nächsten Wechselperiode.

Welche Verantwortung hat der DFB für den Zustand der Nachwuchsausbildung? Und welche liegt bei den Vereinen?
TESSMANN: Der DFB sagt von sich selbst, dass er ein großer Tanker ist, der nicht so schnell bewegt werden kann. Alles was auf der Verbandsebene angestoßen wird, braucht Zeit. Schnelle Veränderungen sind nur auf Vereinsebene möglich. Das Problem ist, dass der Spielbetrieb vom Verband geregelt wird. Es müsste also ein Zusammenspiel sein.

SEN: Tatsächlich ist es eher ein Gegeneinander zwischen den Lizenzvereinen und dem DFB. Da wird darum gerangelt, wer das letzte Wort hat. Der DFB hat zuletzt eine empfindliche Niederlage eingesteckt. Die Ausbildung der Toptalente findet jetzt nur noch an den NLZ statt. Abstellungen an Landesverbände müssen die NLZ nicht mehr gewährleisten, weil Veranstaltungen wie der Länderpokal ihren Spiel- und Trainingskalender zerhacken. Der DFB muss sich also auf das Segment unterhalb der Spitze zurückziehen. NLZ sind Unternehmen, die nur aus der Innensicht agieren und keine Solidaritätsverpflichtung empfinden.

Welche Folgen hat das?
SEN: Das Ganze verlagert sich zwangsläufig in die paar Eliteblöcke, die komplett machen, was sie wollen. Aber es hilft niemandem, wenn der FC Bayern schon U-15-Spieler für unglaublich viel Geld verpflichtet. Wenn Sie wüssten, was da läuft! Wie die Jungs miteinander sprechen! Wie sie mit der Zahl ihrer Follower in den Sozialen Medien angeben! Das ist die absolute Spitze des Zynismus.

Wir haben merkwürdige Zustände erreicht, wenn 14 Jahre alte Jungs in den Trikots großer Vereine das Gefühl haben, nach dem Spiel bei elf- oder zwölfjährigen Zuschauern stehen bleiben zu müssen und Autogramme zu schreiben. Und wenn es dann nicht einen Erwachsenen gibt, der sagt: „Was machst du denn da? Ab in die Kabine, sonst gibt’s ‘nen Satz warme Ohren.“

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