Nico and The Navigators beglücken mit Schubert-Variationen
Der Sänger schweigt. Der Pianist wartet. Das Publikum hält die Luft an. Es ist dies jener berühmte Anfangsaugenblick, in dem zwei musikalische Einzelkämpfer zur Monade werden, was schon an sich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Sekunden dehnen sich zu Minuten. Jeder, der einmal ein Liedrecital erlebt hat, kennt das. Irgendwann muss der Mann doch endlich den Mund aufmachen!
Auf der Bühne des Verdo-Konzertsaals in Hitzacker, bei der Premiere der neuen Schubert-Inszenierung von Nico and The Navigators, sieht man die Gesichter der Akteure parallel auch in Großaufnahme, auf der Videowand. Der russische Bariton Nikolay Borchev stiert Löcher in die Luft, sein Liedbegleiter Jan Philip Schulze blickt besorgt.
Dann aufmunternd, fordernd, flehend, bittend. Schelmisch, liebevoll, ironisch, verzweifelt. Wie viel verschiedene Arten gibt es, allein mit mimischen Mitteln „Jetzt!“ zu rufen? Oder: „Jetzt aber los“?
Das Erhabene und das Banale liegen nah beieinander
Schwer tropfen schließlich die ersten Töne des Vorspiels zum „Ständchen“ aus Franz Schuberts „Schwanengesang“ aus dem Flügel. So dicht beieinander liegen Pathos und Albernheit, das Erhabene und das Banale in dieser Musik, dass man das „Komm, beglücke mich!“ am Ende des Refrains, wenn die Stimme sich aufschwingt, so oder so verstehen darf, auch persönlich.
Mehr als 600 Lieder hat Schubert geschrieben. Keines ist wie das andere, nicht jeder vertonte Text große Literatur. Doch kaum ein Lied ist dabei, das nicht auf seine Art gelungen wäre. Einige wurden zu Volksliedern, viele gehören in den Zitatenschatz von Generationen.
Dass man aus dieser weltumspannenden Popularität quasi als „Trittbrettfahrer“ (Matthias Goerne) einen künstlerischen Mehrwert erschaffen und das Schubertlied weltanschaulich übermalen, rekomponieren sowie zu neuen Liedern oder Romanen, Tanz- oder Theaterabenden verarbeiten müsse, ist keine neue Idee. Szenische Schubertlied-Zyklen gibt es von Christoph Marthaler, William Kentridge und vielen anderen.
Zum Ensemble gesellt sich das famose Kuss Quartett
Das Ensemble Nico and The Navigators rund um die Regisseurin Nicola Hümpel hat ihren Beitrag zu dieser Mode mit „Silent Songs into the wild“ bereits 2017 im in Brüssel abgeliefert, in Koproduktion mit dem Berliner Konzerthaus. Jetzt wurde, zur Eröffnung der Sommerlichen Musiktage in Hitzacker, eine radikalisierte Zweitfassung uraufgeführt, in großteils neuer Besetzung.
Mit von der Partie sind erstmals Jan Philip Schulze, der einige virtuose Solostücke beisteuert, darunter ein wuchtiges Arrangement von „Die Stadt“. Außerdem das famose Kuss Quartett. Es trägt kammermusikalische Inseln bei, aus nonverbaler Poesie, beispielsweise, totenwurmtickend, in „Der Tod und das Mädchen“.
Die Mitwirkenden kommen aus sieben Ländern
Vor allem mischt es sich improvisierend unter das restliche fahrende Volk aus Sängern, Tänzern, Akrobaten. Manche Lieder werden nur von im Flageolett gezirpten Grundharmonien begleitet. Andere verwandeln sich in Lieder ohne Worte, gesungen von Klavier, Gitarre und Kontrabass (Tobias Weber). Wieder andere werden gesprochen oder fransen bei der aus Algerien stammenden Altistin Sarah Laulan aus in arabische Klage-Melismen.
Die Mitwirkenden kommen aus sieben Ländern. Das macht das Grundthema des Abends aus – Schuberts Musik als ein Hohelied der Empathie und guten Laune, der Freundschaft und Heimat. Man geht getrost hinaus, den Kopf voll guter Musik. Szenenbeherrschend die fantastischen Doppelgänger-Projektionen, die von Oliver Proske videotechnisch verarbeitet werden.
Traumhaft die Tanzimprovisationen der Japanerin Yui Kawaguchi. Sie kann komplexe Gedanken mit einer Handbewegung ausdrücken und übersetzt das komplette, rasende Es-Dur-Impromptu in Bilder, die froh sind und traurig zugleich.