Sinnlich mit System
Ein wenig überraschte er schon sein Auditorium: statt wie sonst im blauen Hemd, der Lieblingsfarbe, nun in zartem Pink. Doch Siegfried Grauwinkel ist ohnehin in seinem Element bei der Eröffnungsrede für die Ausstellung „Systhema, Positionen des Konkreten“ im KunstHaus Potsdam. Denn die Arbeiten für die Schau im ehemaligen Pferdelazarett des Ulanen-Garde-Regiments stammen aus seiner Sammlung. Einzige Ausnahme: Die Skulptur von George Rickey gehört der Berlinischen Galerie.
Die Leihgabe ist eine kleine Verbeugung vor dem Engagement des 2002 gegründeten Kunstvereins und des in Kleinmachnow lebenden Sammlers, der in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Kollektion internationaler konkreter Kunst zusammengetragen hat – rund 600 Werke. Die Potsdamer Ausstellung aber ist einer kleinen Gruppe Verschworener gewidmet. Sie hatte sich 1974 in West-Berlin zusammengeschlossen, um zu zeigen, „dass es in dieser Stadt dann doch noch andere Künstler gibt“; dass nicht nur „Realisten, sogenannte ,kritische Realisten’, moralisierende Eiferer“ das Bild bestimmen.
Ein kleines Kapitel Berliner Kunstgeschichte
So zumindest beschrieb Andreas Brandt in einem Brief an Hans Uhlmann den Gründungsgedanken der Künstlergruppe. Gleichzeitig bat er den Bildhauer, bei ihnen mitzumachen – allerdings erfolglos. Damals nannte sich die Gruppe noch „System“, nach ihrem größten gemeinsamen Nenner. Uhlmann war nicht zu überzeugen.
Es ist Siegfried Grauwinkel zu verdanken, dass dieses beinahe verzweifelte Gegenhalten in einer vor allem für figurative Malerei bekannten Stadt und damit ein kleines Kapitel Berliner Kunstgeschichte überliefert ist, denn die zwölfköpfige Gruppe fiel bald wieder auseinander, Hinweise gibt es nur wenige. Doch der 77-Jährige sammelt nicht nur die Kunst der Konkreten, sondern auch ihre Kataloge und Korrespondenz.
Die Gruppe war von Anfang an international orientiert
Dazu gehören die Briefe von Andreas Brandt, mit denen er etwa Karl Ruhrberg um einen Katalogbeitrag bat oder sich beim Geschäftsführer der „Freien Berliner Kunstausstellung“ 1975 bitterlich beklagte, dass ihre Werke beschädigt worden waren: „Wer, frage ich, soll für die Restaurierungskosten und die Entschädigung aufkommen? – die betroffenen Künstler doch wohl kaum.“
Ihren größten Auftritt hatte die Gruppe 1977 im Amos Andersen Museum in Helsinki. Im Jahr darauf kam eine Einladung der Loeb-Galerie nach Bern, wo Harald Szeemann die Ausstellung kuratierte. International orientiert war die Berliner Truppe immer schon. So gehörten zu „Systhema“ neben dem Amerikaner George Rickey außerdem der Brite Peter Sedgley und die beiden Tschechen Jan Kotik und Rudolf Valenta, die als ehemalige Daad-Stipendiaten in der Mauerstadt geblieben waren oder wie Rickey zumindest teilweise ihren Wohnsitz behalten hatten.
Vor sechs Jahren sollte die Ausstellung in Bratislava stattfinden
Für ihren Sammler Siegfried Grauwinkel ist es die Erfüllung eines Traums, dass die Ausstellung nun zustande kommt. Schon vor sechs Jahren hätte sie in Bratislava stattfinden sollen; die slowakischen Veranstalter mussten wegen mangelnder Finanzen kurz vor Eröffnung wieder absagen. Nun aber sind die Werke von Frank Badur, Andreas Brandt, Stefanos Gazis, Johannes Geccelli, Kristin Gerber, Thomas Kaminsky, Jan Kotik, George Rickey, Christian Roeckenschuss, Klaus J. Schoen, Peter Sedgley und Rudolf Valenta im historischen Backsteinbau in Potsdam zu sehen. Davor projizierte etwa Sedgleys Lichtskulptur „Beaulious“ die Spektralfarben bei Grauwinkels in Kleinmachnow kontinuierlich an die Treppenhauswand; bis Anfang September dreht das Diachronie-Glas seine Runden nun unter dem Dach des Lazaretts.
Grauwinkel strahlt bei seiner Rede vor Glück, dass er seine Ausstellung endlich bekommen hat und wenigstens die 83-jährige Kristin Gerber als eines der vier noch lebenden Gruppenmitglieder aus Berlin zur Eröffnung anreisen konnte. Der Sammler ist Enthusiast. Dass er einmal einer werden würde, hat er von sich vermutlich am wenigsten erwartet. In Bernau geboren, in Schmargendorf aufgewachsen, der Vater war Tischler, die Mutter hat geputzt, ging es für ihn früh von der Schulbank weg in die Arbeitswelt.
Als Generalvertreter machte Grauwinkel beruflich sein Glück
Doch Grauwinkel hat sein Glück gemacht, wurde Generalvertreter in der Elektrobranche und begann als 28-Jähriger in West-Berlin, den Markt aufzurollen, wie er es nennt. „Da lag ein Klumpen Gold auf der Straße, und ich habe mich gebückt“, beschreibt er seinen Werdegang. Bald hatte er den Geschäften am Kurfürstendamm rauf und runter die neuesten Lichtschienen verkauft.
Zum Erweckungserlebnis wurde eine Reise 1980 nach Kanada, wo Grauwinkel einen Geschäftsfreund an einem Samstagvormittag in Toronto in eine Galerie begleitete. Innerhalb weniger Stunden gab der rund 45 000 Mark für Kunst aus. Grauwinkel konnte es erst nicht fassen, doch dann erwarb er ebenfalls einen „Brushstroke“ von Tegu Ostenrijk für 2000 Mark.
Vor zwölf Jahren spezialisierte er sich auf konkrete Kunst
Noch heute sieht man ihm beim Erzählen die Verblüfftheit von damals an – wie sich für ihn auf einmal der Wert eines Kunstwerks zu ändern begann. Zu Hause, damals noch in Lankwitz, kam das bei der Familie, der Ehefrau und den beiden Töchtern, gar nicht gut an. Bis heute wird seine Leidenschaft mit einer gewissen Reserviertheit betrachtet.
Doch Grauwinkel macht sein Ding. Seit zwölf Jahren sammelt er nur noch konkrete Kunst, geht auf Messen in Basel und Köln, besucht die Ausstellungen der von ihm geschätzten Künstler. Zum Beispiel Dóra Maurer, da gerät er ins Schwärmen. In seinem Arbeitszimmer hängt ein „Overlapping“ der Ungarin. Die rechteckige Bildfläche wirkt gewölbt und scheint wie ein fliegender Teppich nach oben zu schweben. „Das anzusehen ist wunderschön“, sagt Grauwinkel. „Da werden die Gedanken frei.“
[Kunstverein KunstHaus Potsdam, Ulanenweg 9, bis 5.9.; Mi–So 12–17 Uhr]
Der Sammler macht kein Hehl daraus, dass ihm gerade das gefällt: „Ich mag keine Kunst, die erklärt werden muss.“ Die Konkreten strahlen eine Ruhe aus, die ihm im Berufsleben immer fehlte. Deshalb hat er sich auch Spontankäufe verboten. Nur bei der Farbe Blau wird er schnell schwach. In Kleinmachnow gibt es eine strahlend gelbe Wand, an der eine ganze Kollektion blauer Werke prangt. Woher die Vorliebe kommt, weiß er selbst nicht genau. Das pinkfarbene Hemd bei der Ausstellungseröffnung war die Ausnahme.