Er war so schön phonogen

War er wirklich der größte Tenor seines Jahrhunderts – oder hatte er nur das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein? Als Enrico Caruso am 11. April 1902 in einem Mailänder Hotelzimmer seine ersten Plattenaufnahmen macht, steckt die Tonträgertechnik noch in den Kinderschuhen.

Erst wenige Jahre zuvor hatte Emil Berlin sein Patent für das Grammophon angemeldet. Und auch der italienische Tenor ist gerade erst in die Spitze des internationalen Opernbusiness vorgestoßen.

Geboren als Kind eines Arbeiters in Neapel

Für beide wird es ein paralleler Siegeszug: Zur Überraschung seiner Londoner Plattenfirma, der Grammophone & Typewriter Company Ltd. entwickeln sich die Caruso-Platten zum Verkaufsschlager. Alle Welt lauscht staunend die Stimme, die da auf rätselhafte Weise eingefangen und auf schwarze Scheiben gebannt worden war.

Sie gehört einem jungen Mann aus Neapel, geboren 1873 als 18. Kind eines Arbeiters, dessen Talent im Kirchenchor auffällt, der sich aber erst mühsam durch die Provinztheater Süditaliens singen muss, bis sich ihm Ende 1899 endlich die Pforten des wichtigsten Musentempels seiner Heimat öffnen: die der Mailänder Scala.

Nur 17 Jahre sollte Carusos Karriere ab dem Zeitpunkt seines Schallplattendebüts dauern, am Weihnachtsabend 1920 singt er seine letzte Vorstellung, am 2. August 1921 ist er tot, niedergestreckt von einer Kombination aus Lungen- und Bauchfellentzündung. Sein globaler Ruhm aber lebt fort, selbst Thomas Mann setzt ihm ein literarisches Denkmal: Zu den Lieblingsschellacks des „Zauberberg“-Protagonisten Hans Castorp gehören jene Scheiben, auf denen seine „unbeschreiblich ansprechende, zugleich süße und heldenhafte“ Stimme zu hören ist.

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In der Tat war der Sänger von der Natur mit zwei besonderen Geschenken bedacht worden: einer außergewöhnlichen Klangfarbenfülle in der Mittelage seiner Stimme – und der Fähigkeit zu kraftvollen Spitzentönen, wie sie zu seiner Zeit kein anderer Tenor zu bieten hatte. Für die Schallplattenkarriere war die üppige Mittellage entscheidend: Denn die noch unausgereifte Technik konnte hohe und schlanke Stimmen schlecht einfangen: Sie klangen unangenehm schrill aus dem Trichter.

Mann und Maschine. Enrico Caruso um 1910.Foto: imago images/Everett Collection

Selbst durch das starke Rauschen der historischen Aufnahmen verströmt sich Enrico Carusos Organ warm und balsamisch. Geschmeidig wie ein Cello entfaltet sich der baritonal grundierte Tenor, mit einer Sinnlichkeit, die um 1900 das Publikum wohlig erschauern ließ.

Die Tenöre der Generation vor Caruso waren noch an den Idealen des Belcanto geschult worden, des italienischen Schöngesangs. Man legte bei ihrer Ausbildung viel Wert auf Verzierungskunst und androgyne Eleganz, erwartete darüber hinaus auch eine kultivierte Weltläufigkeit, die es den Sängern erlaubte, Hofe ebenso souverän aufzutreten wie auf der Opernbühne. Enrico Caruso, der sein Leben lang kein einziges Buch gelesen haben soll, erschafft dagegen mit seinen Interpretationen Männer des Volkes, Helden von schlichtem Gemüt und machohafter erotischer Ausstrahlung.

Seine Nervosität bekämpfte der Sänger mit zahllosen Zigaretten

An der New Yorker Metropolitan Opera, die seine künstlerische Heimat wird, lehnen viele Habitués diesen neuartigen Gesangsstil allerdings als zu vulgär ab. Doch Caruso ist nicht darauf erpicht, die Bedürfnisse der Elite zu befriedigen. Er will die Massen erreichen. Eben auch durch die Schallplatte. Und seine Phonogenität hilft ihm dabei. Er wird zum Pionier der technischen Reproduzierbarkeit – und prägt die Opernästhetik des ganzen 20. Jahrhunderts. Alle Tenöre wollen klingen wie er – oder ganz bewusst anders.

Die glanzvolle Zeit des Grammophon-Gottes Caruso jedoch währt nur kurz, schon 1911 zeigt ein Pneumogramm krankhafte Veränderungen im Bereich seiner Stimmlippen. Was auf die Mühe und Anspannung hinweist, die für seine stimmlichen Leistungen nötig sind, wie Jens Malte Fischer im Standardwerk „Große Stimmen“ schreibt. Caruso schwebt nicht auf den Wolken des Erfolgs, von Jahr zu Jahr lastet der Ruhm schwerer auf seinen Schultern. Er will alles geben für die Fans, doch die Nervosität quält ihn, nimmt neurotische Züge an.

Er weiß ihr nur durch Kettenrauchen zu begegnen – und durch eine wüste Mischung aus Salzwasser, Whisky, Schnupftabak und Äpfeln, die ritualhaft vor den Auftritten eingenommen werden müssen. Als selbstgewählten „Sklavendienst“ hat Carusos Frau dieses eiserne Durchhalten in den letzten Jahren beschrieben: „Er gewann keinen Trost und keine Nahrung aus der Musik, aber er gab beides.“

Der Sänger schafft es mit letzter Kraft aus seiner amerikanischen Wahlheimat zurück nach Neapel. Hier wird er wenige Wochen später sterben – und die Musikwelt macht diesen Tod zum theatralischen Opernfinale: Nachdem Caruso unter Schmerzen seinen letzten Atemzug getan hat, drucken die Zeitungen aller Kontinente Sonderausgaben, New Yorks Bürgermeister lässt die Flagge am Rathaus auf Halbmast setzen – und seine Plattenfirma macht einen riesigen Reibach. Bei der Beerdigung säumten 100 000 Menschen die Straßen Neapels auf dem Weg von der Kirche bis zum Friedhof, wo Carusos einbalsamierter Körper in einem Sarg aus Kristall und Silber aufgebahrt wurde.