Moral in Computerspielen: Sterben und sterben lassen

Lügst du, um dein Ziel zu erreichen? Rettest du andere, auch wenn du dich damit selbst gefährdest? Ignorierst du den Obdachlosen oder gibst du ihm ein paar Münzen? Games stellen Spielende ständig vor moralische Entscheidungen.

In der „Baldur´s Gate“-Reihe kann nicht nur die Augenfarbe, sondern auch die moralische Gesinnung des Avatars ausgewählt werden – von „rechtschaffen gut“ bis „chaotisch böse“. In „The Walking Dead“ muss man sich irgendwann entscheiden: Welcher Gefährte darf weiterleben, Carley oder Doug? „Detroit: Become Human“ stellt Fragen, die seit der Veröffentlichung im Jahr 2019 immer weniger nach fernem Cyberpunk klingen und mehr nach naher Zukunft.

Hier haben Cyborg-Sklav:innen, die von großen Konzernen erfolgreich als Haushaltshilfen, Polizist:innen und Ersatzkinder vermarktet werden, menschliche Emotionen entwickelt: Wut, Hass, Liebe, Trauer. Wo verläuft unter diesen Voraussetzungen die Grenze der (Un)Menschlichkeit? Ist es zum Beispiel unmoralisch, ein Cyborg-Kind zu missbrauchen?

Morden um das Kind zu retten

Seit den Anfängen von Tetris und Co. hat sich viel getan. Je weiter die technologische Entwicklung fortschritt, desto mehr Möglichkeiten hatten Spiele, komplexe Geschichten zu erzählen und interessante interaktive Elemente ins Spiel zu bringen. Und was ist interessanter als eine schwierige moralische Entscheidung?

Um die 2010er Jahre herum kam es zu einem regelrechten Hype von Spielen, die mit moralischen Dilemmata experimentierten. Studios wie Telltale Games mit „The Walking Dead“ und „The Wolf Among Us“ oder Quantic Dream mit „Heavy Rain“ versetzten Spielende in bis dahin beispiellose Extremsituationen, die das Zentrum des Gameplays bildeten.

In „Heavy Rain“ etwa spielen wir einen verzweifelten Vater auf der Suche nach seinem Sohn, der mutmaßlich von einem Serienkiller gekidnappt wurde, der das Kind in „Saw“-Manier nur dann am Leben zu lassen verspricht, wenn der Spieler alle moralischen Grenzen überschreitet – bis hin zum Mord. Sind wir bereit, einen anderen Menschen zu töten, in der Hoffnung, unser Kind damit zu retten?

In „Heavy Rain“ suchen ein Vater und ein Privatdetektiv nach einem entführten Kind.

© Quantic Dream

Bald wurde allerdings klar, dass die moralische Fallhöhe sehr viel geringer war als die Studios glauben machen wollten. Denn tatsächliche Konsequenzen für die Erzählung hatten viele der vermeintlich weitreichenden Entscheidungen nicht. Andere Entwickler:innen lernten daraus. In der Rollenspielreihe „The Witcher“ des polnischen Studios CD Projekt Red haben etwa auch kleine, augenscheinlich unwichtige Entscheidungen große Folgen für den weiteren Spielverlauf. Weniger In-your-face-Moral also, mehr real world.

Game Over für schlechtes Benehmen

Gut und Böse etablieren Entwickler:innen, indem sie belohnen und bestrafen, oder manches gleich von vornherein verbieten. Im Rennspiel „Midtown Madness“ von 1999 können zwar Straßenschilder umgefahren werden, Passant:innen aber springen stets hyperagil in letzter Sekunde zur Seite, egal, wie schnell man auf sie zufährt.

Ganz anders in CD Projekt Reds „Cyberpunk 2077“ von 2020. Da kann jede:r und alles per Auto, Motorrad oder sonstigem Gefährt auf offener Straße überfahren werden. Dann rückt allerdings schon bald die Polizei an, vor der man dann flüchten, oder die man bekämpfen kann. Letzteres ist wiederum im Ego-Shooter „XIII“ von 2003 unmöglich: Polizist:innen töten bedeutet Game Over.

Auf welchen moralischen Überzeugungen der Entwickler:innen das jeweilige Belohnungssystem beruht, wird naturgemäß in der Regel erst deutlich, wenn es in Kraft tritt. In dem Action-Spiel „Infamous“ muss man sich im Kampf gegen einen Golem dafür entscheiden, den Gastank in dessen Hand entweder aus der Distanz zu zerstören und damit den Tod der umliegenden Zivilist:innen in Kauf zu nehmen oder dafür, es zuzulassen, dass der Golem den Tank auf die Spielfigur wirft. So werden die Zivilist:innen gerettet, man selbst steckt allerdings massiv Schaden ein.

Schießt man den Tank ab, wertet das Spiel dies als „böse“ Handlung. Bringt man sich selbst auf Kosten der anderen in Gefahr, erhält man „gute“ Karmapunkte. Eine einzelne Person zu opfern, um mehrere Menschen zu retten, markiert das Spiel also als moralisch richtige Handlung. Und steht damit einer ganz bestimmten Moraltheorie nahe: dem Utilitarismus. Bedeutend sind hier allein die Konsequenzen der Handlung und nicht etwa, wie etwa bei Immanuel Kants Pflichtethik, die innere Motivation oder, wie bei Aristoteles, der tugendhafte Charakter.

Humanist, Utilitarist oder Nihilist?

Das australische Indie-Studio Drop Bear Bytes erhebt den Prozess der moralischen Bewertung mit seinem neuen Spiel „Broken Roads“ nun erstmals zum Spielprinzip. Das Abenteuer ist in einer dystopischen Version des australischen Outbacks angesiedelt. In diesem Setting könnte man nun eine Spielemechanik frei nach Bertolt Brecht erwarten: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Doch die Entwickler:innen hatten anderes im Sinn und lassen die Spielenden in Entscheidungssituationen zwischen vier moralphilosophischen Weltbildern wählen: Utilitarismus, Humanismus, Machiavellismus und Nihilismus.

Szene aus „Broken Roads“

© Drop Bear Bytes

Wenn man etwa in der postapokalyptischen Ödnis auf eine schwerverletzte Frau trifft, die von wilden Hunden angefallen wurde, bietet das Spiel folgende Handlungsmöglichkeiten: „Als Humanismus-Anhänger erlöst du die Frau von ihrem Leid. Als Nihilist ignorierst du sie und durchsuchst ihre Ausrüstung, um für dich Hilfreiches mitzunehmen. Als Machiavellismus-Anhänger durchsuchst du ihre Ausrüstung und versuchst zusätzlich Informationen über sie zu sammeln, die dir einen Vorteil verschaffen könnten. Als Utilitarist jagst du die wilden Hunde, damit diese nicht weitere Menschen angreifen.“

„Broken Roads“ konfrontiert Spielende so nicht nur mit ihrer eigenen moralischen Sozialisation, sondern führt ihnen auch vor Augen, was man bei interaktiven Abenteuern leicht vergessen kann: Dass Spiele jenseits der Erzählung qua ihrer Systeme Werte und Normen vermitteln. Und das eindringlicher und häufig subtiler als andere Medien, weil man selbst agiert. Eine wichtige Lektion für die weltweit drei Milliarden Gamer:innen. Im Spiel wie im Leben gilt: Die Moral hängt auch vom Handlungsspielraum ab.