Preisgekrönte Graphic Novel aus Brasilien: Mit Liebe und Kunst gegen den Strudel der Gewalt
Márcia hält ihre rebellische Tochter am Handgelenk. „Moment mal, Fräulein, du kehrst mir nicht den Rücken zu, wenn ich mit dir rede!“, ruft sie. Doch die junge Erwachsene kümmert sich wenig um die späten Erziehungsbemühungen ihrer Mutter.
Márcias Sorge, Jaqueline könne auf die schiefe Bahn geraten, bestätigt sich bald. Als sie ihre Tochter nach einer Festnahme bei der Polizei abholen will, ist sie längst auf freiem Fuß – und verschwunden. Wer hat die Kaution bezahlt? Márcia macht sich auf die Suche und gerät in ein Netzwerk aus Drogenbanden und kriminellen Milizen.
Leben an der Armutsgrenze
In seiner Graphic Novel „Hör nur, schöne Márcia“ erzählt der brasilianische Comiczeichner Marcello Quintanilha eine packende Geschichte vor dem Hintergrund der Schattenseiten seines Landes.
Obwohl Márcia in zwei Jobs arbeitet und ihr Freund auf dem Bau schuftet, leben sie am Rand der Armutsgrenze – ein Auto, Medikamente oder ein Anwalt sind Luxus, den sie sich nicht leisten können. Zum Alltag ihres Viertels am Rand von Rio de Janeiro gehören Prostitution, Drogenhandel und Gewalt.
Zärtlichkeit und Liebe als stärkste Waffen
Wie kann Márcia ihre Tochter aus diesem Strudel retten? Sie steht vor einer Wahl, die ihr vertrautes Umfeld erschüttern und sie selbst in Lebensgefahr bringen könnte.
Den überraschenden Wendepunkt in der Geschichte bildet Márcias unerwarteter Kontakt mit einem Kunstwerk. Inmitten des Existenzkampfes bringt es Zärtlichkeit und Liebe als stärkste Waffen in die Handlung ein.
Gleichzeitig verleiht das Element der Kunst der Geschichte eine Tiefe, die den Leser schwer wieder loslässt. Der durch Armut, politisches Versagen und Korruption geprägte Alltag wird erhellt durch einen Hoffnungsschimmer.
Knallig bunte Schlüsselszenen
Starke Dialoge, kräftige Farben und Kalt-Warm-Kontraste machen die bewegende Erzählung zu einem stimmigen Gesamtwerk. In lockeren Zeichnungen konzentriert sich Quintanilha aufs Wesentliche, verzichtet auf unnötige Details oder die klassische Rahmung seiner Panels, die er wie aus dem Leben gerissene Bilder auf den Seiten anordnet.
Großzügig setzt er Farben ein: Als flächiger Hintergrund verstärken sie dramatische Szenen, symbolisieren Wut oder Trauer. Als Hautfarbe wählte er einen kühlen blauvioletten Ton. Weil die Figuren oft sehr nah dargestellt werden, dominiert der prägnante Ton die Seiten und verleiht der Geschichte eine harte, distanzierte Atmosphäre, die ästhetisch an den Film Noir erinnert.
Einige Schlüsselszenen, wenn Márcia sich etwa mutig gegen eine drohende Vergewaltigung verteidigt, katapultieren mit knallig bunten Hintergrundstrahlen die Lesenden in die Welt des Retro-Comics – vielleicht ein Hinweis auf die Prägung des Autors aus seiner Zeit als junger Comic-Leser?
1971 in Rio de Janeiro geboren, gehört Quintanilha zur „alten Garde“ unter den Comicschaffenden. 1988 begann er als Autodidakt. Mit „Hör nur, schöne Márcia“ gewann er 2022 den Preis für das „Beste Album des Jahres“ auf dem Festival von Angoulême, dem wichtigsten Comic-Event Europas. 2016 war dort bereits seine Graphic Novel „Tungstênio“ als bester Krimi gekürt worden.
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