Warum Moskau im Städte-Ranking weit über Berlin steht
Wo steht Moskau im Städte-Ranking? Und wo Berlin? Darüber konnte man Interessantes erfahren beim Vortrag, den der russische Geschäftsführer der Beratungsfirma „Boston Consulting Group“ während einer Schiffsfahrt auf der Moskwa hielt, dem sich in zahlreichen Kurven durch die russische Hauptstadt schlängelnden, gleichnamigen Fluss. Kurz zusammengefasst, steht Moskau ganz weit oben – und Berlin nur im Mittelfeld.
Nun kann man solche Rankings gewiss nicht zum Nennwert nehmen. Das heißt indessen nicht, dass die Boston-Berater nur mit dem Finger in der Luft herumwedeln. Einige Aspekte sind bemerkenswert. Zum Beispiel der der „Veränderungsgeschwindigkeit“: Da rangiert Berlin weit hinten, und man wird das, bei allem Lokalpatriotismus, kaum bestreiten können. Dass Moskau in dieser Kategorie hingegen obenan rangiert, lässt sich bei jedem Besuch der Stadt, ja beinahe bei jedem Spaziergang erkennen.
Den Anlass für Bootsfahrt und Stadtbesichtigungen bildete jetzt das Moskauer Stadtforum, vor zehn Jahren vom damals neuen Bürgermeister Sergej Sobjanin initiiert und nun coronabedingt nur für geladenes Fachpublikum abgehalten, während früher zwei der vier Veranstaltungstage Programm für eine breite Öffentlichkeit boten.
Die Konzerthalle im kremlnahen Sarjadje- Park – dem bislang größten urbanistischen Projekt der Ära Sobjanin – ist hermetisch abgeriegelt. Ohne morgendlichen Corona-Test kommt niemand hinein. Wahrlich nicht ohne Grund wird von allen offiziellen Redner:innen beschworen, welch’ umfängliche Maßnahmen die Stadt ergriffen hat, um die Pandemie zu stoppen.
Moskau zählt offiziell 12,6 Millionen Einwohner, tatsächlich wohl die ein oder andere Million nicht gemeldeter Mitbürger mehr. Im seit jeher zentralistischen Russland spielt nun einmal alle Musik in der Hauptstadt. Sie platzt aus allen Nähten.
Nach Jahrzehnten seelenloser Hochhaussiedlungen am immer weiter ins Land sich schiebenden Stadtrand hat der aus Sibirien stammende und als gelernter Schlosser mit einer lupenreinen Sowjet-Biografie ausgestattete Sobjanin eine Politik der gezielten Stadtbildung angestoßen. Sie läuft unter dem Titel „Mein Bezirk“. Unter anderem sollen 300 000 Wohnungen als Ersatz für rund 5000 nicht mehr als renovierungsfähig eingestufte (Platten-)Bauten entstehen und 1,6 Millionen Einwohner in die Neubauten übersiedeln. Die heftigen Proteste, die diese von oben verfügte Politik hervorrief, werden ungern thematisiert.
Der 63-jährige Sobjanin war vor seiner Berufung zum (Ober-)Bürgermeister fünf Jahre lang Chef der Präsidialverwaltung und ist mit dem autoritären Vorgehen der Putin-Ära hinlänglich vertraut, betreibt seine eigene Politik indessen in einer geschmeidigen Mischung aus Anordnen und Informieren. Zuletzt wurde er 2018 mit einer Zweidrittelmehrheit wiedergewählt, wie vorsichtig auch immer man Wahlergebnisse aus Russland beurteilen muss.
Dann gibt es das Programm „Meine Straße“: Bereits gut 140 Straßenzüge wurden durch Eingriffe wie Verbreiterung der Bürgersteige, Anpflanzung von Bäumen und Anlage von Fahrradspuren aufgewertet. Für den Besucher nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber von Einheimischen hervorgehoben wird das radikale Aufräumen bei Verkehrsschildern und anderen Informationselementen der Straße. Alles reduziert und verkleinert, den Autoverkehr dabei flüssiger gemacht: Kein leichtes Unterfangen bei mehr als vier Millionen Pkw, die sich zu jeder Tages- und Nachtzeit zu endlosen Staus ballen können, wenngleich seltener als zuvor.
Das geht Hand in Hand mit der rigiden Durchsetzung von Verkehrsregeln. Sobjanin, der beim Forum und wohl auch sonst frei und artikuliert spricht, erwähnt ohne Umschweife, dass nicht länger die Besitzer von Premium-Autos parken dürfen, wo sie wollen, sondern sich an die Regeln zu halten haben.
Eine zufällige Fahrt durch das als zentrumsnahes Wohnquartier beliebte Viertel Samoskworetschje belegt, dass die früheren, wilden Parkplätze etwa vor Kirchen oder Metro-Stationen vollständig verschwunden sind; massive Blumenkübel tun ein Übriges. Der Taxifahrer bremst bereits bei jeder auf auf Gelb springenden Ampel abrupt ab. Fußgängerwege werden allseits respektiert, wo man die Straßenseite früher nur in Angst und Eiltempo zu wechseln wagte.
Entlang der Flussufer entstehen mehr und mehr kleine Parkanlagen, Ruhezonen, Treppen zum Wasser hin; und wo mehr Platz ist, zusätzlich Sportplätze. Die aus Sowjetzeiten geläufige Verbindung von Erholung, Sport und Kultur ist nicht nur im riesigen Gorki-Park lebendig geblieben oder neu belebt worden. Ein Musterprojekt ist denn auch der Sportkomplex rund um das – bereits zur Fußball-WM 2018 von Grund auf erneuerte – Luschniki-Stadion. Stadtarchitekt Sergej Kusnezow, der 2012 im Alter von erst 35 Jahren in sein mächtiges Amt berufen wurde, führt den von ihm geplanten Umbau mit dem unterkühlten Stolz des ergebnisorientierten Ingenieurs vor.
Oberbürgermeister Sobjanin hat um sich eine Riege von Machern – und vor allem im Gesundheitssektor auch Macherinnen – geschart, die ihre Powerpoint-Vorträge mit jeder Menge von Schaubildern und Statistiken unterfüttern. Am einfachsten nachzuprüfen sind die Erfolgsmeldungen des Verkehrssektors: Man muss nur einmal mit der neugeschaffenen Ringlinie – etwa wie der Berliner S-Bahn-Ring – fahren, um zu sehen, dass sie wie angepriesen funktioniert, mit nagelneuem Fuhrpark und avancierter Technik etwa beim Ticketing. Daneben nimmt sich Berlin als geradezu modernisierungsfeindlich aus.
Das Netz der legendären Metro ist bereits in Sobjanins erstem Jahrzehnt um sagenhafte 80 Stationen gewachsen. Derzeit wird an einer weiteren Ringlinie gearbeitet, mit 70 Kilometern Länge und 30 Stationen, die allesamt bis zum Ende des kommenden Jahres in Betrieb sein sollen, etliche als Umsteigestationen zu den weiteren, demnächst 14 U-Bahnlinien, die inzwischen bis in die äußersten „Rayons“ vordringen. Kein Moskowiter, so die technikaffine Verwaltung, solle weiter als einen Kilometer zur nächsten Metro-Station laufen müssen.
Da kommen dann wieder die neuen Wohnbauten ins Spiel. Für sie zeichnet der für Bau und Stadtentwicklung zuständige Vizebürgermeister Andrei Bochkarev verantwortlich. 16 Millionen Quadratmeter Wohnfläche sollen binnen 15 Jahren entstehen; derzeit gebe es 500 Baustellen in allen Bezirken der verwaltungsmäßig vergrößerten Stadt. Architekturwettbewerbe für einzelne Häuser gibt es nicht; stattdessen wurden Gestaltungsrichtlinien vorgegeben. Wie sich das im gebauten Ergebnis niederschlägt, ist auf dem riesigen Areal der früheren „Zil“-Autofabriken im Südosten der Stadt zu besichtigen.
Entlang einer zentralen Fußgängerstraße ragen Wohnbauten mit bis zu 15 Stockwerken auf, deren Gestaltung sich in jeder europäischen Stadterneuerung von Kopenhagen bis Paris oder Berlin wiederfinden lässt. Dazu ist ein großflächiger Stadtpark bereits fertig, mit einem sich durch das gärtnerisch gestaltete Gelände schlängelnden Metallgebilde, einer Art Gerüst, unter dem Imbisskioske Platz finden und nebendran Spiel- und Sportplätze.
An den Autoverkehrsstraßen, die es naturgemäß auch gibt, ragen Bürohäuser auf, im Rohbau ungefähr im 25. Stockwerk angekommen. Sie sollen im Sinne einer Stadt der kurzen Wege Arbeitsplätze aufnehmen, die nicht mehr nur im Stadtzentrum oder aber im Hochhausreservat „Moscow City“ mit seinen bis zu 350 Meter hohen Wolkenkratzern konzentriert sein sollen.
[Alle wichtigen Updates des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter “Fragen des Tages”. Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]
Ja, den Autoverkehr gibt es und wird es weiter geben: Mehr als 1000 weitere Straßenkilometer sind fertiggestellt, im Bau oder geplant, mit dem Schwerpunkt auf Tangentialverbindungen. Neben dem innerstädtischen, trotz bis zu zehn Fahrspuren chronisch überlasteten Gartenring gibt es bereits zwei äußere Stadtautobahnringe, ohne dass ein Ende des Stop-and-go-Verkehrs abzusehen wäre.
Das eine tun und das andere nicht lassen, ist, so scheint die Leitlinie der Rathauspolitik. Und doch ist Moskau eine Stadt in sichtbarem Wandel. Der zehn Hektar große Sarjadje-Park an der Moskwa ist das sichtbarste Beispiel. Er musste durchgesetzt werden gegen die Macht von Investoren, die auf diesem kostbaren Areal neben dem Kreml weitere Luxushotels und Shopping Malls hochziehen wollten, genau wie im Stadtkern. „Er steht sinnbildlich für den rasanten Wandel, der Moskau in den letzten Jahren ergriffen hat“, schrieb die Architekturzeitschrift „Bauwelt“ zur Eröffnung 2017.
Jetzt ist da ein hügeliger Park, der mit seiner Bepflanzung die Vegetationszonen Russlands simuliert, von Tundra über Wald bis Steppe. In ihn halb hineingebaut ist die Konzerthalle, der Tagungsort des Stadtforums – wie das Parkkonzept insgesamt entworfen vom New Yorker Büro Diller Scofidio + Renfro. Wie gern lässt man sich da von Beratungsfirmen versichern, dass Moskau beim Maßstab „Speed of Change“ an der Spitze liegt! Und es ist ja nicht einmal falsch. Die ein oder andere Dienstreise sollten Berlins Lokalpolitiker durchaus ins Auge fassen.