Werkschau im Arsenal-Kino: Die wundersamen Zwischenreiche des Apichatpong Weerasethakul

Die Schottin Jessica Holland, gespielt von Tilda Swinton, lebt im kolumbianischen Medellin. Als sie ihre Schwester in einem Krankenhaus in Bogotá besucht, wird sie eines Morgens von einem lauten Knall geweckt. Im Krankenhaus lernt sie auch eine Archäologin (Jeanne Balibar) kennen, die menschliche Gebeine untersucht, welche bei Bauarbeiten an einem Tunnel im Dschungel gefunden worden sind.

Um dem wiederkehrenden Knall in ihrem Kopf nachzuspüren, sucht Jessica einen Toningenieur (Juan Pablo Urrego) auf, der das Geräusch zu rekonstruieren versucht. Als sie am folgenden Tag in dessen Studio zurückkehrt, kennt dort keiner den jungen Mann. Dafür begegnet ihr am Ufer eines Flusses ein alter Fischer, der genauso heißt wie der Tontechniker. „Sind sie die Anthropologin aus Bogotá?“, fragt er Jessica ohne aufzusehen.

Beide Begegnungen führen in „Memoria“ von 2021, dem jüngsten Film von Apichatpong Weerasethakul, auf unterschiedliche Weise aus der Stadt heraus in die Natur. Die Werkschau des thailändischen Regisseurs im Berliner Arsenal könnte am Mittwoch daher mit keinem besseren Film eröffnen. „Memoria“ kreist um eine Person auf der Suche, ohne dass ihr Pfad sonderlich zielstrebig verliefe oder immer ganz klar ist, wonach sie eigentlich genau sucht. Der Knall in Jessicas Kopf verstört sie und versetzt sie in eine ratlos, unruhige Bewegung, die Bilder von Kameramann Sayombhu Mukdeeprom verfassen den Außenraum dieser inneren Suche.

Apichatpong Weerasethakul, der an den ersten beiden Abenden persönlich im Arsenal zu Gast ist, hat eine beeindruckende Bilanz vorzuweisen. Schon sein Debüt „Blissfully Yours“ sorgte 2002 mit einem eigenwilligen Erzählfluss und einer meditativen Naturzugewandtheit auf Festivals weltweit für Aufsehen. In dem verwunschenen „Tropical Malady“, der 2004 in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, fanden diese beiden Elemente – Realismus und ein Hang zur Metaphysik – zu einer überzeugenden Form; er etablierte Weerasethakul mit seinem unverwechselbaren Stil als einen der prägendsten Filmemacher im Weltkino der vergangenen 15 Jahre.

Verschwinden im Dschungel

„Tropical Malady“ besteht aus zwei Teilen. Der erste kreist um zwei junge Männer: Keng dient als Soldat auf dem Land in Thailand, Tong arbeitet in einer Eisfabrik. Die beiden beginnen eine Beziehung, die als Freundschaft startet, aus der aber schnell mehr wird. Eines Abends jedoch geht Tong nach einem Treffen in den Dschungel – und verschwindet. Der zweite Teil handelt von einem jungen Soldaten, der in den Dschungel geschickt wird, um einen Tiger zu töten; hier hat er eine Reihe von Begegnungen mit Tiergestalten und -geistern. Wie die beiden Teile zusammengehören, belässt „Tropical Malady, diese kinematografische Grenzerfahrung, in der Schwebe: Alle Filme Weerasethakuls bewegen sich in einem animistischen Zwischenreich.

Mit „Tropical Malady“ etablierte Weerasethakul, der als Bildender Künstler auch auf die Documenta 13 eingeladen war, seinen filmischen Stil: etwa der eigenwillige Aufbau seiner Geschichten, die sind selten chronologisch, eher wie in einem Traumzustand erzählt sind. Er arbeitet viel mit Spiegel- und Parallelstrukturen. Weerasethakul erinnert an andere Filmemacher, die Anfang der 2000er Jahre ebenfalls auf Festivals reüssierten – wie zum Beispiel der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke. Filme, in deren Menschen durch die Bilder driften – auf der Suche nach Sinn im eigenen Leben und Halt in der Gesellschaft. Sie spielen an Nicht-Orten im Zustand einer (auch politischen) Transformation.

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Mit diesen beiden Positionen dominierten Regisseure jenseits der europäisch-US-amerikanischen Filmproduktion für einige Jahre die Neuorientierung im Weltkino. Doch die Filme Weerasethakuls sind – etwa gegenüber denen von Jia Zhang-ke – innerlicher. Die Suchbewegungen der Figuren folgen weniger klaren Parametern und öffnen so größere Assoziationsräume, für Fragen der menschlichen Selbstverortung. 2009 präsentierten das Österreichische Filmmuseum und das Arsenal erstmals einmal eine Werkschau, seitdem hat Weerasethakul in Cannes mit „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ (2010) auch die Goldene Palme gewonnen.

Die neuerliche Werkschau findet nun unter veränderten Vorzeichen statt. Ein Jahr nach dem Coup des Militärs sagte Weerasethakul in Interviews, dass er angesichts der Veränderungen nicht mehr Teil der kulturellen Landschaft Thailands sein möchte. Sein Film „Cemetery of Splendour“ von 2015 wurde nicht mehr in Thailand aufgeführt. Das Werk Weerasethakuls ist damit endgültig zu transnationalem Weltkino im besten Sinn geworden.