Leben nehmen, Leben schenken

Der schmerzgekrümmte Körper. Das verschwitzte Gesicht. Der Schrei, der sich dem Mund entringt – ein Kind zu bekommen ist eine Qual. Pedro Almodóvar zeigt es gleich doppelt, zwei Mütter, die simultan in der Klinik gebären, er zeigt es genauso unverblümt, ja begeistert wie sonst den Sex.

Bis die beiden neugeborenen Töchter ihre ersten Babyschreie von sich geben. Einmal mehr würdigt der spanische Filmemacher die Frauen, ihre Tatkraft, ihre Hingabe, ihre Liebe.

Es sind zwei denkbar ungleiche Mütter, die in seinem jüngsten Werk im Mittelpunkt stehen. Beide wurden versehentlich schwanger, beide sind alleinstehend: Penélope Cruz als renommierte Fotografin Janis, die von ihrem Lover Arturo (Israel Elejalde) sitzen gelassen wurde, weil der seine krebskranke Ehefrau nicht im Stich lassen wollte, und Milena Smit als noch minderjährige Ana, die von gleichaltrigen Jungs zum Sex erpresst worden ist.

Von ihrer eigenen Mutter, einer Theaterschauspielerin (Aitana Sánchez Gijón), wird sie kaum unterstützt, weil diese endlich ihre späte, große Bühnenchance wittert. Noch eine Mutter, ohne den sagenumwobenen Mutterinstinkt.

Unfreiwillige Mütter, unwillige Mütter, tapfere Mütter, gleichgültige Mütter, aufopfernde Mütter, biologische Mütter, Wahlmütter: Almodóvar würdigt sie alle, setzt sie alle ins Recht. Dazu gehört auch der Hinweis auf Janis’ eigene Hippie-Mutter, die die Tochter nach Janis Joplin benannte und mit 27 Jahren starb, genau wie die amerikanische Rockikone.

Im Dorf sind in einem Massengrab die Opfer der Falangisten verscharrt

Eine Geschichte über Vorfahren und Nachkommen nennt Almodóvar „Parallele Mütter“. Die Zufallsbegegnung von Janis und Ana im Kreißsaal, die bald schicksalhafte,tragische Wendungen nimmt, ist mit einer Rahmenhandlung über die spanische Geschichte verknüpft, über das Schweigen, das auf der Vergangenheit lastet.

Janis und ihr Kindsvater Arturo lernen sich bei einem Fotoshooting kennen, bei dem sie den forensischen Anthropologen um Unterstützung für ihr Heimatdorf bittet. Dort kämpft ihre Familie mit den Nachbarn für die Öffnung des Massengrabs, in dem die Opfer der Falangisten seit der Zeit der Franco-Diktatur verscharrt sind. Das Dorf will seinen verlorenen Kindern endlich die letzte Ehre erweisen und sie in Würde begraben.

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Bei der Weltpremiere von „Parallele Mütter“ auf dem Filmfest Venedig schimpfte Almodóvar auf die Schlussstrich-Mentalität in der spanischen Politik und warb für die Aufarbeitung des historischen Traumas, für die Erinnerung an die Bürgerkriegs-Opfer, die aus der nationalen Geschichtsschreibung verdrängt werden. „Die Geschichte ist niemals stumm“, zitiert der Film-Abspann den uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano, „sie weigert sich, den Mund zu halten.“

Ein Motto zur Reminiszenz an jene, denen unter Franco das Leben genommen wurde. Es ist aber auch auf die Geschicke von Janis und Ana gemünzt, auf jene, die Leben schenken.

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Denn die blutjunge Ana muss bald um ihr Kind trauern, und Janis lädt Schuld auf sich, indem sie die Wahrheit über ihre eigene Tochter verschweigt. Penélope Cruz ist hinreißend in der Widersprüchlichkeit ihrer Figur zwischen pragmatischer Fürsorge und verwerflichem, klammheimlichem Egoismus. Eine glamouröse Charakterdarstellerin, die das Publikum erneut in Bann zieht. Seit „Live Flesh“ (1997) ist es die siebte Zusammenarbeit der heute 47-jährigen Cruz mit dem 72-jährigen Regisseur.

Lügen und Geheimnisse, Schuld und Verstrickung, ein schwergewichtiger Stoff. Aber Almodóvar kleidet ihn in seine berühmten leuchtenden, lebensfrohen Farben, Rot, Grün und Gelb, mischt Elemente der Telenovela, der Komödie und des Melodrams hinein – den sich manchmal schön altmodisch aufbauschenden Streichorchester-Soundtrack steuert sein Stamm-Komponist Alberto Iglesias bei.

Almodóvars Filme waren Kult in der Zeit der Movida

Auch in den finsteren Augenblicken lässt der Film eine leise Ironie walten. Ob bei herzzerreißenden Abschieden noch am Baby-Tragesack herumgenestelt wird oder Ana bei aller Seelenpein erst einmal lernt, Kartoffeln in dünne Scheiben zu schneiden und eine leckere Tortilla in der Pfanne zu brutzeln.

Die Tonarten leichthändig und souverän zu mischen, es ist Almodóvars Spezialität. Noch der verrücktesten Seifenopern-Volte trotzt er Realitätssinn ab, und wie kein anderer vermag er, genrefluid zu erzählen.

Zwischendurch muss auch mal geklärt werden, wie man eine leckere Tortilla brät. Milena Smit (l) als Ana und Penélope Cruz als…Foto: dpa/El Deseo/Studiocanal

Apropos fluid: Auch Janis und Ana sind sich irgendwann mehr als nur freundschaftlich zugetan. Und die erst 25-jährige Milena Smit setzt mit ihrer so natürlichen wie an Überraschungen ebenfalls reichen Figur die Reihe der großen Almodóvar-Schauspielerinnen mühelos fort.

In seinen gut zwei Dutzend Filmen hat Almodóvar die Mütter immer wieder ins Licht gerückt, inspiriert von seiner eigenen Mutter, die aus ihrem Dorf in La Mancha in den Achtzigern nach Madrid kam. Es war die Zeit der Movida, jener hedonistischen Post-Franco-Ära mit ihrer Pop-, Camp- und Undergroundkultur, deren Star der Regisseur bald werden sollte.

Seiner bodenständigen Mutter setzte der Filmemacher zuletzt in „Leid und Herrlichkeit“ ein Denkmal. Die im Altersheim lebende Mutter des von Antonio Banderas gespielten Regisseurs-Alter-Egos zerpflückt bei einem Besuch des Sohns kurzerhand dessen Faible für Autofiktionen, vor allem für Kindheitserinnerungen.

In vielen Filmen von Pedro Almodóvar geht es um Frauen und Mütter

Und wer verkörperte in diesen Rückblenden die Mutter in jungen Jahren, wenn sie etwa in einer paradiesischen Szene mit den anderen Dorffrauen am Bach weiße Laken wäscht? Klar, Penélope Cruz. Schon „Live Flesh“ begann damit, dass sie als Prostituierte in einem Bus ein Kind zur Welt bringt.

In „Alles über meine Mutter“ von 1999 fächerte Almodóvar dann sämtliche Varianten des Frau- und Mutterseins auf, einschließlich trans Frauen, trans Mütter und weiterer queerer Identitäten. Cruz spielte darin eine schwangere Nonne.

Seit den 70er Jahren lässt der Regisseur auf diese Weise eine Ahnenreihe entstehen, denn er bleibt seinen Diven treu. Rossy de Palma, deren kantiges Profil und energisches Auftreten seit „Frauen am Rande des Nervenbruchs“ nicht mehr aus der europäischen Kinolandschaft wegzudenken ist, ist diesmal als Verlegerin und beste Freundin dabei. Sie steht Janis nicht nur zur Seite, sondern verschafft der alleinstehenden Mutter auch baby-kompatible Jobs.

Geschichtsschreibung in eigener Sache

So betreibt Almodóvar nicht zuletzt Geschichtsschreibung in eigener Sache, auf ganz uneitle Weise. Es sind immer die Darstellerinnen, die er feiert, wachen Auges verfolgt er nicht zuletzt den Generationswechsel der Frauen. Anlässlich der Venedig-Premiere erklärte er, es gehe ihm auch um das Recht der heutigen Generation, anders als seine eigene Mutter nicht mehr allmächtig, sondern unvollkommen zu sein. Und doch halten sie die Dinge wieder am Laufen, fragen nicht groß, sondern tun, was zu tun ist. Vielleicht der Wesenskern der Zivilisation, der Menschlichkeit.

[„Parallele Mütter“ läuft ab Donnerstag, 10. März, in 15 Berliner Kinos]

Almodóvar, ein Familienmensch. Auch Kameramann José Luis Alcaine, seit den 80er Jahren dabei, steuert wieder seine Kunst bei, Gesichter strahlen zu lassen, zwei Menschen, die sich nahe kommen, mit Blicken zu umarmen und einzuhegen oder die farbenfrohen Interieurs und Accessoires wie expressive Charaktermerkmale ins Bild zu setzen.

Familie funktioniert hier erneut am besten als Patchwork, wie in den frühen, schrillen Almodóvar-Filmen. Am Ende stehen Janis und Ana Hand in Hand mit ihren Liebsten und Wahlverwandten am geöffneten Massengrab, mit all ihrem Schmerz, ihren Schwächen und Fehlern, ihrer Lebenslust.

Wieder geht es um Identität: Die Babyrassel, der Ehering, die Pantoffeln neben den Skeletten machen die Ermordeten kenntlich. In einem grandiosen Schlussbild werden die Toten und die Lebenden eins. Geschichte ist niemals stumm, niemals tot. Almodóvars Kino verneigt sich vor denen, die ihr eine Zukunft geben.