„Wir brauchen eine neue Erzählung der Solidarität“

Frau Strubel, Sie gehören zu den Erstunterzeichner:innen eines neuen offenen Briefes an Olaf Scholz: eine Reaktion auf das in der „Emma“ veröffentlichte Schreiben, das den Kanzler auffordert, keine schweren Waffen an die Ukraine zu schicken. Warum ein weiterer offener Brief?
Zunächst schadet es nie, wenn es eine breite öffentliche Debatte gibt mit unterschiedlichen Positionen, über die man diskutieren kann. Zum Zweiten hat mich der offene Brief in der „Emma“ doch ziemlich entsetzt, und ich war sehr froh darüber, dass es jetzt diese konzertierte Aktion des zweiten Briefes gibt. Um zu zeigen, dass sich nicht „die Intellektuellen“ Deutschlands hinter dem ersten offenen Brief versammeln, sondern dass es unterschiedliche Haltungen zu dem Thema gibt.

Die Frage nach den Waffenlieferungen spaltet nicht nur Intellektuelle, sondern das Land insgesamt. Die offenen Briefe bilden das ab, festigen es vielleicht auch. Wie gehen Sie mit den neuen Gräben um?
Ich finde nicht, dass sich Positionen durch offene Briefe zwangsläufig verfestigen. Erst einmal müssen Dinge ausgesprochen werden. Unterschiedliche Ansichten sind keine unüberwindbaren Gräben.

Wie begründen Sie persönlich Ihre Haltung, dass Deutschland die Ukraine nach Kräften militärisch unterstützen sollte?
Ich vertraue denen, die sich seit Jahren mit Osteuropa beschäftigen. Ich stütze meine Argumentation auf Erfahrungen, die ich in Helsinki gemacht habe, als mir Menschen aus den baltischen Staaten, Osteuropa und Russland die Augen für die Diskrepanzen zwischen Ost- und Westeuropa geöffnet haben. Schon vor der Besetzung der Krim haben viele in Osteuropa beobachtet, dass Putin den Stalinkult wiederbelebt und vor der wachsenden Gefahr durch ein totalitäres Regime gewarnt, wovon uns im Westen übrigens kaum je ein Politiker berichtet hat. Darauf fußt auch meine Ansicht, dass es im Grunde wenig Sinn hat, sich mit Putin an einen Tisch zu setzen – was im Moment auch gar nicht funktioniert, weil er nicht darauf eingeht. Wie soll man mit jemandem verhandeln, der das gar nicht will?

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Sie selbst sind mit der Angst vor einem Atomkrieg aufgewachsen. Diese Angst wird oft von denen als Argument verwendet, die gegen Waffenlieferungen sind. Sie ziehen andere Schlüsse. Warum?
Ich hatte als Kind einen wiederkehrenden Alptraum: Eine Atombombe fällt hinter unserem Bungalow direkt ins Erdbeerbeet. Das klingt harmlos, aber der Traum war ein Horror. Die Angst war zu Ostzeiten sehr real. Die habe ich jetzt noch.

Aber?
Das Problem ist nur, dass jemand, der pausenlos lügt, komplett unvorhersehbar handelt und sich an keine Regeln hält, auch in allem und jedem einen Anlass findet, um den Krieg eskalieren zu lassen. Wenn unsere Angst uns davon abhält, Putin zu sagen, jetzt reicht’s, so nicht – dann spielen wir sein Spiel weiterhin mit. Es gibt einen klugen Text von Wladimir Sorokin zu diesem Mechanismus. Sorokin beruft sich auf einen Film von Larry Peerce aus den Sechzigern, wo zwei Hooligans in der U-Bahn Randale machen, und, da sich ihnen keiner entgegenstellt, immer aggressiver werden, einfach, weil sie es können und sie niemand stoppt. Der Vergleich zu Putins Verhalten leuchtet mir ein. Das geht so seit 2008, sagen Experten. Jedes Mal, wenn Putin eskalierte, wurde eingelenkt oder ihm entgegengekommen. Deswegen führt meine Angst vor der Atombombe jetzt nicht dazu zu sagen: Lenken wir doch wieder ein.

Jürgen Habermas und Alexander Kluge sehen das anders. Kluge sagt: Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen.
Das ist ein schöner Satz und im Grunde richtig. Aber was heißt das jetzt? Dass Putin die Ukraine dem Erdboden gleichmachen darf, weil er eine Atommacht ist? Und dann? Frieden um jeden Peis scheint mir im Moment keine Lösung zu sein. Waren wir nicht einmal froh, dass Hitler Einhalt geboten wurde? Die Vorstellung, wir sitzen einfach wieder mit Putin an einem Tisch und nehmen eben hin, dass er sein Schreckenssystem ausweitet, finde ich grauenvoll. Ich habe das ungute Gefühl, dass so ein Frieden vor allem uns zur vorläufigen Beruhigung dient.

Ein Kriegsende würde zumindest das Sterben vor Ort beenden. Keine Bomben mehr.
Dazu fällt mir eine Begegnung ein. Bei einer Lesung in Wien kam eine ukrainische Autorin auf mich zu und bedankte sich dafür, dass ich mich vor einiger Zeit in der „FAZ“ für ein Öl-und Gasembargo ausgesprochen hatte. Es sind ja nicht wir, die der Ukraine diktieren, wie sie vorgehen soll. Es ist die Ukraine selbst, die sagt: Wir müssen uns verteidigen, sonst wird es dunkel. Würden die Ukrainer den Krieg jetzt mit Zugeständnissen beenden: Die Menschen würden trotzdem verschleppt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Das hört nicht einfach auf. Putins Regime wird so nicht zum Stehen gebracht.

In Ihrem Roman „Blaue Frau“ beschreiben Sie ein Europa der zwei Klassen: Der Osten ist den Interessen des Westens nachgeordnet. Zeigt sich das nicht gerade wieder?
Das zeigte sich eigentlich seit Beginn des Krieges in der politischen Haltung Deutschlands – das mit Italien zu den letzten gehörte, die den Sanktionen zugestimmt haben. Da trat für mich ein absolutes Fehlen an Solidarität zutage, ein ausschließlich von deutschen Interessen getriebenes Wirtschaftsdenken, das mich schockiert hat. Wie kann ein Land wie Deutschland, mit einer besonderen historischen Verantwortung, in einem solchen Fall so lange zögern, Sanktionen zuzustimmen – aus Angst, etwas von seinem Reichtum zu verlieren? Ich finde, wir brauchen grundsätzlich ein neues politisches Narrativ.

Welches Narrativ wäre das?
Wir müssen von der wirtschaftlichen Wachstumsrhetorik weg, und statt ständig den Teufel der Armut und sozialer Unruhen an die Wand zu malen, wäre ich für ein Narrativ der Solidarität. Über Ländergrenzen hinweg. Jetzt wäre der Moment, in dem eine visionäre Politik das Bemühen um die Rettung des Klimas mit dem Bemühen um Energie-Unabhängigkeit von totalitaristischen und menschenverachtenden Systemen verbindet, rigoros beschleunigt und als Chance formuliert. Das Gefühl, etwas tun zu wollen, statt nur hilflos zuzuschauen, ist weit verbreitet. Das könnte die Politik viel stärker aufgreifen. Da heißt es jetzt wieder, welche Katastrophe ein Ölembargo für Ostdeutschland sei.

Was nicht ganz falsch ist.
Natürlich ist das eine schwierige Situation. Aber auch da könnte man sagen: Machen wir in einer gemeinsamen Kraftanstrengung etwas wirklich Neues. Die fossilen Energien sind am Ende, also lasst uns in Schwedt zum Vorreiter werden. Gerade im Osten sind uns Veränderungen nicht fremd. Machen wir was draus!

Sie erwähnten schon mehrfach Ihre erste Wortmeldung zur Ukraine, ein Wutbrief …
… Wutbrief hatte ich ihn nicht genannt. Das war die Redaktion, ich fand das fehl am Platz.

Ein Verzweiflungsbrief also?
Ja, das trifft es eher.

Darin sagten Sie sich Ende März angesichts der zögerlichen Ukraine-Politik von Deutschland los. Sie unterschrieben in Anlehnung an Tucholsky: „Rávik, aufgehörte Deutsche“. Was würde jetzt dort stehen?
Es war ja nur Rávik, der oder die damals unterzeichnet hat. Ein rhetorischer Kniff. Ich habe mich ein bisschen aus dem Fenster gelehnt, damit die Forderung nach einem Energie-Embargo gehört wird. Dabei bin ich die ganze Zeit sehr beteiligt. Auswandern, das klappt nicht. Sich einmischen ist besser.