Gute Seiten, schlechte Zeiten
Was würde der große Hans Benedek aus der Ankunft der Autorin vor dem Café, in dem wir verabredet sind, machen? „Ciao Bella: Elegante fünf Minuten zu spät steht sie plötzlich da, im Sonnenschein der Auguststraße: pinke Nikes, Jeansrock, große Breakfast-at-Tiffany’s-Sonnenbrille, bezauberndes Lächeln – Johanna Adorján, eine unserer vielseitigsten, verehrtesten Feuilletonkolleginnen! Ihre klugen Promi-Interviews, Gesellschafts-Essays, Kolumnen über Männer und Moral liest man so intensiv wie ihre Bücher. Die 1971 in Stockholm geborene Münchnerin, seit 22 Jahren in Berlin lebend, hat blendende Laune, denn gerade kommt ihr neuer Roman im neuen Verlag raus, mit dem schönen Titel „Ciao“, und …
Okay, stop mal kurz: Hans who?
Hans Benedek ist tatsächlich nur eine Romanfigur, die sich Johanna Adorján für ihren neuen Roman ausgedacht hat, der tatsächlich „Ciao“ heißt (Kiepenheuer & Witsch, 272 S., 20 €) und der Grund dafür ist, dass wir uns wirklich an einem Mittwochvormittag zum gemeinsamen Zeitunglesen in einem Café in Mitte verabredet haben. Und dieser Hans Benedek ist eine in die Jahre gekommene, also mittelalte Edelfeder aus dem Feuilleton der fiktiven Berliner „Die Zeitung“.
Der Antiheld Benedek kommt im Roman schwer unter die Räder, als er ein – um Himmels willen! – ranschmeißerisches Porträt ausgerechnet über die junge Influencerin und Pop-Feministin Xandi Lochner schreiben will. Man muss sich das in etwa so vorstellen wie den Roadrunner aus dem Comic auf dem Buchcover, der gerade über den Abgrund gelatscht ist, in der berühmten Pause des Innehaltens in freier Luft, bevor es abwärtsgeht.
Da Johanna Adorjáns Rahmenhandlung also im weitesten Sinne Feuilleton ist, fand ich es eine gute Idee, mich als Rahmenhandlung für unser Gespräch mit ihr zum Zeitunglesen zu treffen. Und habe „FAZ“, „SZ“ und Tagesspiegel dabei, Feuilleton only. Fand Adorján sofort gut. Obwohl sie sofort einräumte, dass sie natürlich grundsätzlich nichts Schlechtes über Kollegen sagen werde.
Da das Café nach der Pandemie auch auf der anderen Straßenseite Tische aufstellen darf, stehen dort kleine Schildchen, auf die jemand ganz rührend „Nur für Kunden*INNEN“ geschrieben hat. „Das heißt, dass wir reingehen müssen“, sagt Adorján. Wir bleiben natürlich draußen und überlegen kurz, was wir trinken – wirklich noch einen Kaffee? –, entscheiden uns beide für Cappuccino.
Es ist der Tag der Regenbogen-Presse, auf allen Titelseiten geht es um das Ungarn-Spiel und das Uefa-Verbot (selbst die Kassiererinnen beim Rewe tragen Regenbogenmasken – „klar machen wir ditt mit!“). Aber Adorján interessiert sich zum Glück null für Fußball, also starten wir direkt in die Literatur durch. Die Idee zu ihrem Roman, in dem die Pandemie keine Rolle spielt, sei ihr während der Pandemie gekommen: Budgetkürzungen im Printjournalismus, Tugendterror um Political Correctness zwischen den Generationen, Shitstorms um Old White Males (ein Begriff, den Adorján selbst nie verwenden würde). Die gründlich fiktionalisierte Handlung spielt erkennbar in Deutschland. Die Frau von Benedek ist eine verkannte Lyrikerin, es herrscht großer Starbedarf nach jungen Feministinnen und eine gottschalkhafte TV-Show spielt eine entscheidende Rolle. Und immer wenn die filmische Erzählung ins zu populär Fernsehspielhafte abzugleiten droht, bewahrt Adorján den Roman mit ein paar klugen Gedanken und originellen Beschreibungen eben genau davor: klassische Bestseller-Qualitäten!
Was ihr wichtig ist: Es ist kein Schlüsselroman. Aber einer über unsere Zeit, in der das, was mal der öffentliche Diskurs war, gerade sehr selbstgerecht, schwarz-weiß und rechthaberisch zerstritten geworden ist. Klar, auch wegen des Internets, wo Adorján selbst einen ziemlich guten Instagram-Account mit Buchtipps und knapp 17K Followern betreibt.
An dieser Stelle lobt sie mich trotzdem, weil ich immer noch kein Smartphone habe, und fotografiert mein Outdoor-Bauarbeiter-Handy mit ihrem schicken roten iPhone. Dann fragt sie skeptisch nach, ob ich denn überhaupt nichts aufnehme oder mir Notizen machen will. Und wird noch ein bisschen skeptischer, als ich auf meine Vorbilder Capote („95 % Gesprächserinnerung“) und André Müller verweise, der Meister des nachträglich gescripteten Interviews.
Ich versuche sie damit zu beruhigen, dass ich mir ein paar Stichwörter in mein limonengrünes Moleskine notiere und sie dann lieber zu ihren eigenen großen Interviews befrage, die sie in letzter Zeit exklusiv mit Emmanuel Carrère („Yoga“) und Christian Kracht („Eurotrash“) gemacht hat. Wir reden ein bisschen off the record über die Charaktere der beiden (ist Carrère wirklich so manisch? Kracht wirklich so klug und höflich?) und widmen uns dann endlich der Tagespresse, den Feuilletons von heute.
Natürlich nimmt Adorján sich zuerst die „Süddeutsche“, ihre Heimatzeitung und Arbeitgeberin. Sie hat die Zeitung selbstverständlich auch im Print-Abo, kommt aber oft erst nachmittags oder abends („oder danach auch: nie mehr“) zum Lesen. Heute ist ausnahmsweise mal nichts von ihr drin. Aber ich lobe sie sehr für den schönen Denis-Scheck-Verriss neulich: die Krise der Literaturkritik im deutschen Fernsehen, wo es dauernd irgendeine Nebenhandlung geben muss (Scheck rudert mit Kehlmann über den See, Scheck reitet mit Juli Zeh aus), die dafür sorgt, dass man nichts außer Kamerabewegungen und des Kritikers Köpfchen im Gedächtnis behält. Die Gefahr, dass wir es genauso machen könnten (Rahmenhandlung Zeitunglesen!), kontern wir damit, dass wir uns ja zum Glück fürs alte Nachdenker-Medium Print zum Cappuccino getroffen haben!
Im „SZ“-Feuilleton heute findet sie die Bilder zu groß – „verstehe ich nicht ganz. Ich will ja kein Bilderbuch angucken, sondern Zeitung lesen.“ Zum Beispiel den Artikel über die Documenta-Ausstellung im DHM. Und die Filmkritik über einen Horrorthriller würde sie sich eventuell aufheben, bis sie den Film gesehen hat – aus Angst vor Spoilern, wenn schon wieder die ganze Handlung erzählt wird, beziehungsweise aus der Begeisterung dafür, im Kino zu sitzen und gleich einen Film zu sehen, über den man exakt noch gar nichts weiß.
Im Tagesspiegel-Feuilleton gefällt ihr das (normal große) Aufmacher-Foto vom jubelnden Gerd Müller und hinten im Weltspiegel („das sogenannte Vermischte oder Panorama lese ich immer als Erstes und am liebsten. Auch wegen der angenehm bewältigbaren Textlängen“) ein Artikel über das neue, postpandemisch durchstartende New York. Auch wenn Adorján die Vermutung wagt, dass Amerika als kultureller Hauptbezugspunkt bald ebenso over sein könnte, wie die hoffentlich bald überwundene Pandemie in Vergessenheit geraten wird.
In der „FAZ“, ihrem alten Arbeitgeber, bewundert sie das Foto von Martha Argerich, die gerade mit Daniel Barenboim in Hamburg aufgetreten ist, wo sie sehr gerne dabei gewesen wäre. Und will auf jeden Fall einen Artikel über den italienischen Architekten und Designer Gio Ponti von Claudius Seidl lesen, einem ihrer absoluten Lieblingsautoren im Feuilleton. Von dem habe sie als Journalistin in der Zeit ihrer Zusammenarbeit am meisten gelernt. „Diese Leichtigkeit des Sitzens“ lautet Seidls von ihr sofort gemochte Überschrift.
Und das war es dann mit dem Sitzen im Café. Eine letzte Frage habe ich noch: Ist die ganze positive Niceness auf Instagram (wo Adorján fast nur Empfehlungen postet, nie Verrisse) gerade die große Gefahr für den sogenannten öffentlichen Diskurs und unser Denken, das ja vor allem immer Krise und Kritik braucht, die wir Snowflakes dann immer weniger ertragen?
„Ich finde es einfach wahnsinnig nett, wenn alle nett sind“, sagt sie mit ihrer angenehmen Vorlesestimme, die so klug und überzeugend klingt, dass man gar nicht mehr auf den Gedanken kommt, weiter nachzufragen. Immerhin spielt ihr Roman ja in den Kulissen unserer anstrengenden Gegenwart, in der die Menschen einander, jedenfalls online, alles andere als immer nur wohlgesonnen sind. Sondern sich Fronten gegenüberstehen, zwischen denen die Autorin ihren tragischen Benedek hindurchstolpern lässt: im Glauben, er würde tanzen.
„Ciao, Johanna!“ – „Ja, CIAO!“
Auf dem Weg nach Hause radele ich dann noch nicht in Hans Benedek, aber in Moritz von Uslar rein. Da wir heute ausnahmsweise mal gleich gut angezogen sind (er rosa Hemd, ich hellblaues Hemd), bleibe ich kurz stehen und wir quatschen ein bisschen, auch über Adorjáns Feuilleton-Roman. Ich sage ihm, dass er haarscharf nicht darin vorkommt, dafür aber am Ende in meinem Porträt. Er lacht ungläubig und wünscht mir alles Gute.