Stolze Ruinenbesitzer
In seiner 1997 veröffentlichten aufsehenerregenden Streitschrift „Luftkrieg und Literatur“ hatte der 2001 bei einem Autounfall verunglückte Schriftsteller W.G. Sebald der deutschen Gegenwartsliteratur pauschal die Fähigkeit abgesprochen, die Luftangriffe auf Deutschland während des Zweiten Weltkriegs adäquat darzustellen. Seiner Meinung nach waren die Bombennächte, die viele der getadelten Autoren als Kinder erlebt hatten, „nicht literaturfähig“. Den deutschen Schriftstellern, so Sebald, hätte „die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945“ mehr am Herzen gelegen „als die Darstellung der realen Verhältnisse“.
Es ist das Schicksal der 1937 geborenen Gisela Elsner, dass sie als wahre Avantgardistin auch in diesem Fall ihrer Zeit voraus war. Als ihr Luftkrieg-Roman „Fliegeralarm“ 1989 äußerst schlampig redigiert beim Zsolnay Verlag erschien (der Rowohlt Verlag hatte sich zuvor von der Autorin des Erfolgstitels „Die Riesenzwerge“ getrennt), stieß er weitgehend auf Desinteresse, Unverständnis und sogar Ablehnung. Am 15. Mai 1992 nahm Gisela Elsner sich das Leben.
Da war sie, die einst als das „Poesie-Mannequin“ der Gruppe 47 verspottet wurde und in den sechziger Jahren mit kaltblütigen Skandalromanen wie „Das Berührungsverbot“ internationale Berühmtheit erlangte, bereits weitgehend vergessen. Mit dem Film „Die Unberührbare“ setzte Oskar Roehler im Jahr 2000 seiner Mutter ein bewegendes Denkmal in Schwarzweiß, ihren Lieblingsfarben. Der Hamburger Germanistin Christine Künzel gebührt das Verdienst, zu Gisela Elsners Wiederentdeckung und philologischen Rehabilitierung als begnadete Satirikerin – ein bei Frauen eher seltenes Talent – entscheidend beigetragen zu haben. Christine Künzel gibt im Berliner Verbrecher Verlag eine sorgsam edierte Gesamtausgabe heraus, die den späten Werken wie „Heilig Blut“ oder „Otto, der Großaktionär“ endlich Gerechtigkeit widerfahren lässt. Und nun folgt also auch Gisela Elsners wohl am stärksten autobiographisches Buch „Fliegeralarm“, das Schauermärchen des perfekten Nationalsozialismus aus der Kinderperspektive.
Erstmals wird die faschistische Ideologie bei Gisela Elsner, Tochter eines hohen Nürnberger Siemens-Managers, zum Hauptthema. Sie erzählt aus der Perspektive der fast namensgleichen Lisa Welsner, die sich in einer neunköpfigen Kinderbande als „FRAU“ des „künftigen Führers“ definiert – die entscheidenden Begriffe stehen in Versalien. Denn das Kommando führt der fünfjährige Sohn eines durch Schwarzmarktkontakte privilegierten Lebensmittelhändlers, Befehlshaber von fünf selbsternannten SS-Männern in Dreikäsehöhe. Das einzig wahre Kind in dieser ungeheuerlichen Gruppe von hundertfünfzigprozentigen Nachwuchsideologen ist Kicki, der kleine Bruder der Ich-Erzählerin. Doch auch für ihn gilt: „Für uns Kinder gab es nichts Großartigeres als diesen Weltkrieg, der unsere Eltern in Angst und Schrecken versetzte, aber uns Kinder zu den Besitzern von Ruinen machte.“ Berauscht von codeinhaltigem Hustensaft, begeht die Clique gemäß dem HJ-Motto „hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde“ ihre kaltblütigen Taten auf dem Gelände der „Diemens-Werke“. Dazu zählt auch die Einrichtung eines eigenen KZs, für das bald ein Insasse – gleich ob „Jude“ oder „Kommunist“ – gefunden ist. Ein als intellektuelle Chefideologin gezeichnetes Mädchen (das deshalb keinen „MANN“ abkriegt) mit dem schönen Namen Gaby Glottertal ist nach den Luftangriffen ganz wild auf „Soldatengulasch“. Als Kontrast dazu werden die Eltern der Erzählerin als wehruntüchtige Weichlinge karikiert, die nur auf ihren Vorteil bedacht sind.
Gisela Elsner warf ihren letzten Roman, der auch ein Anti-Heimatroman aus der sogenannten Stadt der Reichsparteitage ist, fieberhaft in acht Tagen und Nächten aufs Papier. Eine schwerverdauliche, aber aufrüttelnde Lektüre, denn die NS-Ideologie wird in ihrer Monstrosität und fatalen Verführungskraft wörtlich genommen. „Fliegeralarm“ ist ein zeitgeschichtlich wichtiges Buch, geschrieben in einer perfekten Symbiose aus Bosheit und Eleganz. Gut, dass es jetzt in angemessener Form wieder vorliegt.
Gisela Elsner: Fliegeralarm. Roman. Hg. von Christine Künzel, Nachwort von Kai Köhler. Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 282 Seiten, 14 €.