Und ewig singen die Bilder

Es gibt Sparprogramme, die etwas kosten. In Bayreuth ist das der Normalfall. Hier, wo sich seit mehr als hundert Jahren alles nur um einen schmalen Werke-Kanon dreht, ist der Werkstattgedanke existentiell. Die geplante Neuinszenierung des „Ring“, inszeniert von Valentin Schwarz, dirigiert von Pietari Inkinen, war aus Pandemiegründen auf 2022 verschoben worden. Doch komplett durchgeprobt wurde er bereits in diesem Sommer, und zwar wochenlang, ausgelagert in eine hygienekonzepttaugliche Halle, jottwede.

Sehen darf das Publikum davon noch nichts. Hören schon. Inkinen absolviert sein mit Spannung erwartetes Debüt mit einer konzertanten „Walküre“ – durchsichtig, sängerfreundlich und betont linear. Freilich fast ganz ohne dynamische Glanzlichter und in allen Zwiegesprächs- Parlando-Passagen außerordentlich langsam, weshalb die Aufführung gut eine halbe Stunde länger dauert als üblich, wofür der Dirigent kurz und heftig ausgebuht wird. Und davor, dazwischen und danach blitzen die anderen drei „Ring“- Teile auf, gespiegelt in multimedialen Splittern zeitgenössischer Kunst.

Rheintöchter tauchen aus dem Seerosenteich auf

So tauchen etwa morgens im Seerosenteich im Festspielpark, zu den zart aus Lautsprechern wabernden Es-Dur-Klängen aus „Rheingold“, die drei Rheintöchter auf. Alt sind sie geworden. Jedoch verbergen sich, hinter grotesk zerknautschten, offenbar gebotoxten Puppengesichtern (entworfen von Puppenspieler Nikolaus Habjan) immer noch die nämlichen leichtsinnigen Geschöpfe. Unter Vorsitz von Erda, ebenfalls nicht mehr die Jüngste, halten sie Gericht über Feuergott Loge, der knurrend im Knast am Ufer auf sein Urteil wartet. „Immer noch Loge“ heißt die Freiluft-Kammeroper von Gordon Kampe, ein Auftragswerk der Festspiele und die erste Uraufführung, die auf dem grünen Hügel stattfindet, seit dem „Parsifal“ 1882.

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Sie stellt die wenigen Überlebenden des finalen Weltenbrands vor die Frage, wie es weitergehen könnte, auch ohne Götter, Riesen, Menschen. Kampe, der das kleine, bläserstarke Ensemble, verstärkt durch elektronische Zutaten, live koordiniert und anleitet, hat Sinn für musikalische Situationskomik. Posaunenglissandi grundieren die wirre Lamento-Anklage Erdas, ein Marschrhythmus zerpflückt die alerten Verteidigungsreden Loges, eine scheinbar harmlose Plantscherei schlägt, percussionbedingt, um in Aggression. Drei Sänger leihen den lebensgroßen Puppen samt puppenköpfigen Statisten ihre wagnergestählten Stimmen: Daniela Köhler, Stephanie Houtzeel und Günter Haumer. Sie fürchten sich auch nicht vor dem nassen Element. Zwar wurde das Libretto beherzt gekürzt, für eine Farce ist die Sache aber immer noch zu lang, zumal sie am Ende ausgeht wie das Hornberger Schießen.

Installationen träumen vor sich hin

Auf der anderen Parkseite träumt unterdessen friedlich, in feuerroter Pracht, eine der poetischen Installationen von Chiharu Shiota vor sich hin. Markenzeichen dieser Ausnahmekünstlerin sind spinnwebartig verknüpfte Raumskulpturen, sie hat auch schon ganze Bühnenbilder gebaut, nur aus Seilen und Stricken, unter anderem für Sasha Waltz. Diese Skulptur hier ist wetterfest, sie heißt „Götterdämmerung“ und vollendet das Werk der Nornen, indem sie den „Ring“ heilt und rundet.

„Siegfried“ dagegen, drittes Teilstück des „Ring des Nibelungen“, wird überführt in Virtuelle Realität. Jeder und jede aus dem Publikum kann sich gratis anmelden für einen Kampf gegen den Drachen, eingerichtet von dem amerikanischen Regisseur und Videokünstler Jay Scheib. So sieht man in den Pausen zu, wie in offenen Pavillons auf rotem Teppich, Damen mit VR-Brillen, in Abendkleidern, wild in der Luft herumfuchteln, wähnend, sie führen gerade das Schwert Nothung.

Tödlich getroffen am Hals

Was mich betrifft, so habe ich Fafner, so wahr ich hier sitze, mehrfach tödlich getroffen, an Kopf und Hals, doch flog er kreischend weiter und spie weiterhin fleißig Feuer, bis er am Ende von allein tot umfiel, weil das Programm es so vorsieht. Ein interaktives Defizit, das hoffentlich behoben werden kann bis zum Tag X, wenn Scheib, wie angekündigt, für die Bayreuther Festspiele den neuen „Parsifal“ inszenieren soll, unter Anwendung von avancierter Augmented-Reality-Technik.

Für ein nicht kleckerfreies, doch ungetrübtes Happening sorgt indes Aktionskünstler Hermann Nitsch. Er ist altersmilde geworden: Ein zahmer Nitsch! Keine Tierleiche, keine Blutopfer, keine üblen Gerüche! Vielmehr hüllt er die konzertante Bayreuther „Walküre“ in schön fließende Farben ein, wie in geschmackvolles Geschenkpapier. Teils wird die Farbe in kleinen Portionen vom oberen Rand aus in den leuchtend weißen Bühnenprospekt gekippt, dergestalt, dass pastellne oder primärfarbene Rinnsale die Wände herunterlaufen. Oder sie landen eimerweise mit Schwung und Platsch auf den Bodenplatten: Natur- und Frühlingsfarben, passend zu Wald und Wonnemond im ersten Aufzug, kontrastreiche Schwärze im mörderischen zweiten Aufzug, helles Rot für das Feuerzauberfinale.

Zwei mal fünf Nitsch-Assistentinnen und Assistenten dekorieren so emsig den Hintergrund, der sich sicherlich stückweise gut verkaufen lassen wird, während die Sänger, in bodenlange, ritualmäßig rabenschwarze Kutten gehüllt, vorn an der Rampe ihr Bestes geben.

Hinausgewachsen aus der Walküren-Rolle

Oder auch: ihr Zweit- oder Drittbestes. Wie die hoch verehrte, immer noch wunderbar temperamentvolle Irene Théorin, die aus der Paraderolle der Walküre im Laufe der Jahre einfach hinausgewachsen ist. Ähnlich mühselig in den Registerwechseln, unscharf artikulierend: der polnische Bassbariton Tomasz Konieczny, der dankenswerterweise kurzfristig eingesprungen ist für die Partie des Wotan. Da aber Wotan und Brünnhilde in der „Walküre“ die wichtigsten Figuren der Handlung sind, hat, wenn beide dergestalt ausfallen, das gesamte Cast ein Problem.

Das gilt für alle und jeden. Auch für den tapferen, sich in Routine rettenden Klaus Florian Vogt als Siegmund. Auch für den sonoren Dmitry Belosselskiy als Hunding, sogar für die bewährte Christa Mayer als Fricka. Einzig Lise Davidsen zieht ungerührt ihre Bahn, als eine einsame, utopisch leuchtende, überwältigend starke Sieglinde, die sich selbst allemal genug ist.