Höllenritt mit Shakespeare

Was für Zeiten, in denen auch im Theater bestimmte Worte und Wendungen plötzlich einen Beiklang haben, der einen jedesmal zusammenzucken lässt. Da spielen sie nun den alten „König Lear“ in einer zwar neuen Textfassung, aber das Stück sieht und hört sich sogar ohne moderne Formulierungen wie „Realpolitik“, „Terror“ oder „eskalieren“ auf einmal verändert an.

Das geschieht jetzt im Berliner Renaissance Theater in einer Shakespeare-Aufführung, die zwischen Boulevard und großer Klassik auf eigene Weise tanzt. An sich ist die Geschichte bekannt: Der ergraute, regierungsmüde King Lear befragt seine drei Töchter nach ihrer Liebe zu ihm, um dann unter sie sein Reich aufzuteilen. Lears eben noch liebste Tochter Cordelia, die anders als ihre beiden alsbald grausamen Schwestern ein übertriebenes Lippenliebesbekenntnis ablehnt, wird von ihrem Vater daraufhin jähzornig verflucht, enterbt, knallfall verstoßen.

Diese bei Shakespeare so schicksalshaft plötzliche Laune des Gefühls spielt Felix von Manteuffel als Lear in der Regie von Intendant Guntbert Warns einerseits mit dem traditionellen Furor des patriarchalischen Machtmenschen. Big Daddy wechselt mal eben zum Großen Diktator. Lears goldene Zipfelkrone könnte zudem Posse, Pose, Märchentheater suggerieren.

Nur äußerlich sind sie Hexenschwestern

Doch der Schein trügt. Denn es befällt einen die Ahnung, wie hellsichtig in Shakespeares Idee von der abgefragten königlich-familiären Liebesprobe auch ganz gegenwärtige politische Rituale stecken: das inszenierte Verhör, das erzwungene Herrscherlob, die im Versagensfall drohende Demütigung. Das Schauspiel als Schauprozess (weitere Aufführungen vom 9. – 13. und 15. – 18. März).

Bald schon, nach Cordelias Verstoßung, machen die beiden Schwestern Goneril und Regan zudem klar, dass sie in ihren blutroten Roben hier gleichfalls nur äußerlich an die bösen Hexenschwestern im Märchen erinnern. Bei Lear ist das Verhalten der männliche Raptus. Goneril und Regan, die fast alle anderen in Folter, Tod und Wahnsinn treiben werden, bekennen später deutsch-englisch: „Wir sind die disruption!“

Das Familiendrama wird zum Genderkrieg

Der zwielichtige Witz dieser Version des Übersetzers und Bearbeiters Thomas Melle liegt darin, die komödiantische Tragödie des alten weißen Mannes namens Lear bloß in Teilen als Vater-Töchter- Konflikt zu erzählen. Tatsächlich läutet Melle verstärkt das Sterbeglöckchen des Patriarchats. Goneril und Regan haben mit dem indirekt betriebenen Vatermord das Ende aller Männerherrschaft im Sinn. Sex mit den Machos ist da vor dem tödlichen Schnitt nur noch notwendiger Spaß, und selbst die eigene Rolle wird nicht verklärt: „…auch wir leiden mit / Kein Paradies ohne Höllenritt.“ Das Familiendrama, der Generationenkonflikt wird so zum Genderkrieg. Zum Krieg. Vor diesem größeren Hintergrund verblassen auch kleine Albernheiten wie Lears Hinweis auf sein „geliebtes Internet“ (mit Followern statt leibhaftigen Knechten).

Kriegsahnungen. Dabei ist diese auf neun Rollen konzentrierte „Lear“-Fassung des in Berlin lebenden Autors Melle schon im Herbst 2019 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und im Renaissancetheater ab dem Frühjahr 2021 geprobt worden. Dann aber fiel die Inszenierung des neuen Intendanten Guntbert Warns nach wenigen Vorstellungen dem Lockdown zum Opfer – und hat darum jetzt ihre zweite Premiere gehabt.

Cordelia, hier statt Nesthäkchen Lears älteste Tochter, spielen alternierend Katharina Thalbach und Ilona Schulz. Und bei der Wiederaufnahmepremiere musste statt der erkrankten Jacqueline Macaulay kurzfristig Leslie Malton als Regan einspringen. Was Malton mit Textbuch in der Hand souverän absolvierte, im Duo mit der kraftvollen Cathrin Striebeck als feministischer Schwester Goneril.

Knisternde Goldfolie auf der Bühne

Warns Ensemble hält überhaupt sehr sicher die Schwebe zwischen Textnähe und pointiert verfremdender Distanz: neben Felix von Manteuffel und den Lear- Töchtern sind das Akteure wie Michael Rotschopf als königstreuer Kent und königsweiser Narr, Klaus Christian Schreiber als Lady statt Lord Glouchester oder Matthias Mosbach und Moritz Karl Winklmayr als kain-abeliges Halbbruderpaar Edmund und Edgar, wobei dieser als intrigant Verstoßener vom „armen Tom“ zum Bowie-haften Major Tom wird.

Mit ihnen allen glänzt das von knisternder Goldfolie oder Wolkenprojektionen auf einfachen Vorhängen geprägte, mit kaum mehr als einer metallenen Galerie bestückte Bühnenbild von Momme Röhrbein. Wenn da am Ende zwei weiße Tische zu einer langen, mörderischen Tafel werden, fällt einem noch ein ganz anderer, sehr langer weißer Verhandlungstisch ein. Aus der Gegenwart.