Liebeserklärung an das Leben

Der Name ist Programm: „Senso“ heißt der neue Comic von Alfred; es geht (und all das sind Übersetzungen des italienischen Nomens) um den Sinn des Lebens, die Sinnlichkeit, und die Richtung (samt unvorhergesehener Wendungen), die ein Leben plötzlich nehmen kann.

Vor sieben Jahren wurde Alfred für „Come Prima“ in Angoulême mit dem wichtigsten europäischen Comicpreis ausgezeichnet. „Senso“ (aus dem Französischen von Silv Bannenberg, Handlettering von Olav Korth, Reprodukt, 160 S., 20 €) fühlt sich ein bisschen wie die Fortsetzung des Roadtrips zweier ungleicher Brüder an, nicht nur dank der italienischen Titel.

Obwohl in „Senso“, anders als in „Come Prima“, weder komplizierte Geschwisterverhältnisse noch das eine Rolle spielen: Gemeinsam haben beide Comics, dass im Subtext die ganz großen Fragen mitschwingen (von denen die größte sicher lautet: Wohin mit mir, was ist der Sinn?), die Sinnsuche nicht zuletzt durch einen Ortswechsel initiiert wird und ihre Verhandlung auf angenehm unpathetische, unprätentiöse, aber doch poetische Weise erfolgt.

Nicht zuletzt dank der Ligne Claire, die die schönen Dinge des Lebens (und in beiden Comics mit Vorliebe die schönen Seiten Italiens) so entschieden und schnörkellos franko-belgisch rahmt und dank der (analog klaren) Dialoge, die ernsten Themen eine leichte Note verleihen.

Die Liste der möglichen Genrezuschreibungen ist lang; es handelt sich um Slice of Life-, Sinn des Lebens- und definitiv um Sommer-Comics, in denen die mediterrane Kulisse ein Stück weit zum heimlichen Protagonisten avanciert.

In „Senso“ ist das primär ein einziges Setting, aber was für eines: Im Fokus steht ein riesiger verwunschener (toskanischer?) Park, der nicht nur ein prächtiges und sehr belebtes Hotel, sondern auch allerlei klassischen Büsten und zeitgenössischen Kunstwerke, Katzen, Vögel und sogar einen Ochsen, majestätische Bäume, Ruinen und unzählige lauschige Eckchen beherbergt.

Immer wieder zelebrieren stumme Passagen und ganze Doppelseiten mit Detailaufnahmen der Natur und Architektur die Schönheit dieses Ortes. Der Comic lädt zur Kontemplation ein; der Park wird zum Sehnsuchtsort. Man kann die Grillen förmlich zirpen hören und möchte schnellstmöglich genau dort hin.

Einheit des Ortes, der Handlung, der Zeit

Der Park wird außerdem zum Ort der Begegnung von Germano und Elena. Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Germano wollte eigentlich zur Eröffnung einer Ausstellung seiner Tochter, hat aber die Reisedaten durcheinandergebracht und ist völlig fehl am Platz. Ohne Hotelzimmer findet er sich inmitten einer Hochzeitsgesellschaft wieder, die das gesamte Hotel belegt.

Unerwartete Wendungen: Eine Szene aus „Senso“.Foto: Reprodukt

Und wie der Zufall es so will, ist der Bräutigam ist ein nerviger Bekannter aus längst vergangenen Jugendzeiten; die Wiedersehensfreude hält sich in Grenzen. Ein angetrunkener Hotelangestellter stellt ihm ein Zimmer in Aussicht; Germano hat keine andere Wahl als abzuwarten.

Eine unangenehme Überraschung jagt die nächste, bis Elena auf der Bildfläche erscheint. Sie ist zwar eine ehemalige Partnerin des Bräutigams, interessiert sich aber herzlich wenig für die Hochzeitsgesellschaft und deutlich mehr für Germano. Gemeinsam geben sich die beiden dem Champagner und der Nacht hin.
Ein Ort, eine Nacht, zwei handelnde Hauptpersonen: Der Comic hat etwas Theatralisches, ein bisschen Drama ist dabei und viel Komödie (es erstaunt daher überhaupt nicht, dass Alfred Schauspielersohn ist und seine ersten Comics die Theaterproben der Eltern nachzeichneten, wie er in diesem sehr hörenswerten französischsprachigen Interview berichtet).

„Senso“ erzählt von einer legendären Nacht, mit der nicht zu rechnen war, von guten Gesprächen und einer Begegnung, deren Ende offen ist und die einen Wendepunkt darstellen könnte (ein bisschen erinnern diese Dynamiken an Paulina Stulins „The right here right now thing“, das wie der Titel impliziert, auch die Geschichte einer magischen Nacht erzählt und dabei das Hier und Jetzt zelebriert, allerdings in einem ganz anderen Register).

Dass eine Nacht, ein Leben ändern kann, ist Allgemeinplatz; der alles andere als profane Ort macht das Zusehen zum Fest. Dass „Senso“ auch darüber hinaus so angenehm, kurzweilig und sympathisch ist, liegt an den Figuren: Germano und Elena sind weder besonders jung, noch besonders schön; sie haben schon ein bisschen was erlebt, und machen sich entsprechend nichts vor.

„Heute Nacht lügen wir ein bisschen“

Daraus resultieren authentische Dialoge, die mit einer reizvollen Mischung aus Abgeklärtheit, Offenheit, Witz und erotischem Knistern bestens zu unterhalten wissen. Nachdem Germano nach der deutlich überzogenen Schilderung seiner Kindheitsträume („Tänzer.. Das hätte mein Leben sein sollen.“) und einem gescheiterten Tanzversuch auf dem Boden landet, macht Elena sich liebevoll ironisch über ihn lustig („Das war überragend!“) und wird daraufhin von ihm als „Lügnerin“ bezeichnet.

Die beiden Hauptfiguren auf dem Titelbild von „Senso“.Foto: Reprodukt

Über den liegenden Germano gebeugt, gibt der folgende Monolog Elenas einen Eindruck in ihre Psyche, ihren Humor und die Möglichkeiten dieser Nacht: „Ist doch schöner, wenn wir uns heute Nacht ein wenig anlügen, oder? … Welchen Sinn hätte es, Ihnen zu erzählen, dass ich seit zehn Jahren keine erfolgreiche Männergeschichte hatte … und dass ich nicht mal sicher bin, ob ich das noch kann…. Dass es mir Angst macht, wie die Zeit vergeht, und mich der Blick in den Spiegel beunruhigt. Jeden Tag wird meine Haut der meiner Mutter ein wenig ähnlicher… nachts habe ich manchmal entsetzliche Ängste … […] Deshalb packe ich mein Leben randvoll, das gibt mir Halt… Workshops … Dauernd mache ich irgendwelche Workshops … Bis zum Erbrechen! Yoga, Meditation, Ayurveda … Es ist beinahe zum Lachen … Das zu erzählen… Würde sich ziemlich verloren anhören, nicht wahr? … Ja, eben. Wir sollen uns das nicht sagen … Heute Nacht lügen wir ein bisschen … und morgen sehen wir weiter.“

Man könnte den beiden ewig zuhören und -sehen, mit ihnen durch den Park flanieren, die Landschaft mit allen Sinnen genießen und über Zufälle, verlorene und neue Hoffnung sinnieren. Die Hommage an Nächte, die nicht enden wollen (und sollen!) stimmt in Zeiten von Corona doppelt heiter und wehmütig, denn „Senso“ liefert (Lebens-)Lust auf Sommer, mediterrane Schönheit und das Genießen des Augenblicks – mit leichtem Schwips und intensiven Begegnungen.