Das neue Ich-Gefühl – Schluss mit Höher, Schneller, Weiter
Wer will schon zurück in die alte Normalität? Doch, manche wollen das. Kinder, die sich das Lesen und Rechnen im ersten Schuljahr mehr oder weniger selbst beigebracht haben, with a little help von Lernplattformen und überforderten Eltern. Studierende, die bald ins dritte Semester starten und noch nie einen Hörsaal von innen gesehen haben. Die demente alte Mutter, die nicht begreift, warum der Sohn sie zur Begrüßung seit eineinhalb Jahren nicht mehr umarmt.
Oder die Angestellte im Homeoffice, die sich das wackelige WLAN in ihrem Notbehelfsbüro im Schlafzimmer mit dem Rest der Familie teilt, während die Vorgesetzte ihr misstraut. Arbeitet die wirklich acht Stunden oder hängt sie zwischendurch die Wäsche auf? All diese Menschen sehnen sich nach dem Alltag von früher, vor Corona. Nach Präsenzunterricht, Unibesuch und stinknormalem Büro mit Kantine.
Aber viele haben die unfreiwilligen Corona-Verhältnisse auch schätzen gelernt und wollen gar nicht zurück in die alten Strukturen. Noch sind Ferien, die Menschen atmen auf, tanken auf. Gleichzeitig ist die Zäsur Anlass für eine neue Nachdenklichkeit. Es gilt ja, ein Leben nicht nach, sondern mit dem Virus zu gestalten, und da dämmert die Erkenntnis, dass es den alten Arbeitsplatz so nie wieder geben wird. Erstaunlicherweise ein oft weniger beängstigender als erleichternder Gedanke.
Nicht nur wegen der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Homeoffice, fast schon ein Allgemeinplatz. Auch das Pendeln als Stress- und Kostenfaktor entfällt. Das Fahrrad boomt, die Vielfliegerei von CEOs zu wichtigen Meetings hat sich als weitgehend überflüssig erwiesen. Konzerne sparen Reisebudgets, Mitarbeiter:innen sparen Nerven in der Rushhour. Mobiles, hybrides Arbeiten, Urlaub im schönen Deutschland ganz ohne Billigflieger haben Konjunktur. Corona hat die Gesellschaft im guten Sinne regionalisiert und entschleunigt. Voller Terminkalender? Nein danke.
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Da stellt sich die Frage, warum es eine Pandemie mit weltweit bislang über vier Millionen Toten braucht, damit wir die Knappheit der Ressourcen nicht länger verdrängen. Der Umweltressourcen wie der eigenen Energie- und Seelenressourcen. Was haben wir vorher eigentlich falsch gemacht bei unserer Work-Life-Balance? Warum waren wir so unflexibel? So gesehen, beschleunigt das Virus so manche Veränderung. In der Arbeitswelt, bei der Digitalisierung, beim Klimaschutz – und im Privatleben.
Die Zwangspause der Lockdowns hat die Zahl der Verabredungen reduziert. Wann sehen wir uns endlich alle wieder? Die so lange drängende Sehnsucht schlägt um in die verblüffende Erfahrung, dass man wenig verpasst, wenn man nicht jeden Abend jemand anderen trifft und nicht jedes zweite Wochenende zum Kurztrip aufbricht.
Wer sind wirklich meine Freunde? Wie sehr trägt die pandemiegeplagte Familie tatsächlich, oder die Wahlverwandtschaft, wie kostbar ist mir dieser und jener Mensch? Haben wir früher nicht verdammt viel Lebenszeit beim Feierabendbier totgeschlagen, mit leerem Gerede, zähen Konferenzen und sinnlosem Freizeitstress?
Konzentration statt Hektik, Wertschätzung statt Schneller, Höher, Weiter
Corona hat eine neue Verbundenheit und Verbindlichkeit befördert. Konzentration statt Hektik, small is beautiful, es ist ein noch vages anderes Lebensgefühl. Klar, wir sind Herdentiere, die wenigsten fühlen sich wohl als Monaden. Wir brauchen einander, die körperliche Präsenz, das unmittelbare Gegenüber, die Nähe. Auch das Zufallstreffen und die Plauderei, beruflich wie privat. Aber es kommt nicht auf die Quantität der Begegnungen an, sondern auf ihre Qualität.
Die Politik kann davon lernen. Sie kann aus dem neuen Ich-Gefühl ein neues Wir-Gefühl ableiten und sich weniger an der Fortschrittsideologie des Höher, Schneller, Weiter orientieren als an Maßstäben wie Wertschätzung, Aufmerksamkeit, Solidarität. Es wäre ein guter Start ins postpandemische Zeitalter.