Der Seelenmaler

Der jähe Schock ist ihm anzusehen über die schwarz verhüllte Figur, die da wie ein Alb auf seiner Brust hockt. Ferdinand Hodler (1853 – 1918) malte sich selbst als Erwachenden, der aus einem Albtraum aufschreckt und das Todesgespenst panisch von sich wegzuschieben sucht. „Die Nacht“ nannte der Schweizer Künstler sein drei Meter breites Panoramabild, das ihn im Zentrum umgeben von anderen Liegenden zeigt, die allerdings eher sanft der schwarze Schleier des Schlafes bedeckt. Das fulminante Gemälde sorgte bei seiner Präsentation 1891 im Musée Rath in Hodlers Heimatstadt Genf für Skandal und wurde noch vor Eröffnung wieder abhängt. Dem Regierungspräsidenten war die naturalistische Nacktheit der Figuren zu unsittlich.

Von Genf aus in die Welt

Der Maler nahm sein Werk zurück und mietete stattdessen einen Saal in einem anderen Gebäude, um es privat mit anderen Arbeiten von sich auszustellen. Die Rechnung ging auf, denn den Aufreger wollten die indignierten Genfer trotzdem sehen. 1300 Franken kassierte Hodler als Eintritt, die Grundlage seines internationalen Durchbruchs. Von dem Geld konnte der Maler sein Bild nach Paris und in andere europäische Städte entsenden, um sich bekannt zu machen. In München begeisterte es Max Liebermann so sehr, dass er es 1898 in die Große Berliner Kunstausstellung im Glaspalast am Lehrter Bahnhof holte.

Den Mann wollte er auch in seiner Secession haben. Hodler kam, wurde Mitglied, ebenso bei der Freien Secession und im Künstlerbund. Von Berlin aus startete er seine Karriere als Schweizer Lieblingsmaler der Deutschen, der er bis heute ist. Wie sehr Hodlers Erfolgsgeschichte mit der Stadt verknüpft ist, wie eng verflochten er mit Protagonisten des Kunstbetriebs und des Handels war, wurde bisher jedoch noch nicht untersucht. Auch nicht, welche Bedeutung ihm schon damals als Wegbereiter des Expressionismus beigemessen wurde.

„Der Mäher“ (1909/10).Foto: Kunstmuseum Bern

Die Berlinische Galerie leuchtet mit der Ausstellung „Ferdinand Hodler und die Berliner Moderne“ dieses unbekannte Kapitel Kunstgeschichte aus. „Ferdinand Hodler – eine Berliner Größe?“ fragt Kuratorin Stefanie Heckmann in ihrem Katalogbeitrag. Unbedingt, muss es fortan heißen; die mitreißende Schau – die erste Retrospektive w seit fast 40 Jahren – belegt es. Von den 61 Werken sind allein 48 Hodlers; 23 waren schon zu Lebzeiten des Künstlers in Berlin zu sehen, wo er zwischen 1898 und 1911 insgesamt vierzig Mal ausstellte.

Natürlich kehrt nun auch „Die Nacht“ nach Berlin zurück. Es hängt als Finale, gegenüber prangt als Pendant das Panoramabild „Der Tag“. Die Berlinische Galerie besitzt selbst kein Bild des Schweizers. Beim „Tag“ strecken sich fünf sitzende Frauen dem Licht entgegen. Auch sie umspielt ein Tuch, allerdings weiß und eher fließend wie Wasser. Blaue Blumen sprießen wie Sterne, eine Wolke überwölbt sie. Die reduzierte Natur und arrangierte Künstlichkeit der Figuren verleiht dem Bild eine fast sakrale Symmetrie. Wie „Die Nacht“ birst es vor Energie. „Wer einmal diese Leinwand gesehen hat, vergisst sie gewiss nie wieder“, schrieb ein Pariser Kritiker über „Die Nacht“. Für den „Tag“ gilt das gleiche.

Er wollte Darsteller, nicht Seiltänzer sein

Doch wie wurde Hodler zum Ausnahmekünstler, der aus jeder Ausstellung herausstach, dessen stark konturierten Figuren in ihren ekstatischen Posen, somnambulen Settings geradezu vibrieren? Gelernt hat er bei einem Freilichtmaler, der der Schule von Barbizon nahestand, geprägt hat ihn der Symbolist Puvis de Chavannes. Hodler fühlte sich keiner Richtung zugehörig: „Ich bin kein Allegoriker, kein Seiltänzer und kein Symboliker, denn meine Werke stellen nichts Übersinnliches, Unsichtbares, Deutungsbedürftiges, sondern die Wirklichkeit, wie ich sie sehen, dar. Ich bin ein Darsteller.“ Das frühe Bildnis „Zwiegespräch mit der Natur“ (1884) nannte er den wahrsten Ausdruck seiner Selbst. Es zeigt einen nackten Knaben, der die ihn umgebende Stimmung in sich aufzunehmen scheint, daraus Kraft bezieht. Seine Seele klingt.

Hodlers Naturbilder feiern das Leben, versprühen eine Vitalität, wie der Künstler selbst es tat, der unermüdlich Bilder produzierte, sich in leidenschaftliche Beziehungen stürzte. Hector, den gemeinsamen Sohn mit seiner Geliebten Auguste Dupin, porträtierte er immer wieder als sein Alter ego, als Natur verbundenes Kind. Diese Bilder sind das Gegenstück zu seinen Erfahrung mit dem Tod, der ebenso in seinen Werken präsent ist. Früh hatte er beide Eltern, vier jüngere Geschwister und die zuletzt verbliebene Schwester an die Tuberkulose verloren. Das Sterben seiner beiden Gefährtinnen Auguste Dupin und Valentine Godé-Varel hielt er in bewegenden Bildern fest.

„Der Kastanienbaum“ (1901).Foto: Kunstmuseum Bern

Natur war für Hodler der Ort des Ausgleichs, auch menschlicher Harmonie. In seinen Landschaftsbildern entfernte er Details wie Bäume oder vorkragende Felsen, rückte die Panoramen so zurecht, dass sich See und Berge symmetrisch zueinander fügen. Ähnlich geht er bei seinen Menschendarstellungen vor, parallelisiert Bewegungen und Haltungen, entindividualisiert Figuren, so dass sie wie Bergmassive eine monumentale Einheit bilden. „Parallelismus“ nannte er seinen Stil.

Das Berliner Publikum, das seinen Menzel, Anton von Werner und als Neuestes die deutschen Impressionisten à la Liebermann schätzte, war ein Symbolismus nach Art Hodlers zunächst fremd. Doch die Kunsthändler Fritz Gurlitt und Paul Cassirer erkannten das Potenzial sofort und luden den Schweizer immer wieder zu Ausstellungen nach Berlin ein, verhalfen ihm in der Reichshauptstadt zu Popularität. Cassirer schickte 1911 eine Hodler-Schau mit knapp 80 Werken sogar auf Tournee.

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Vor allem Landschaftsgemälde fanden reißenden Absatz. Sie prägen bis heute unser Bild von den Schweizer Bergen als Ort stiller, innerlicher Natur, die gleichzeitig gewaltig ist. Die Kritik überschlug sich damals: „Er ist nach allen Seiten bekannt als der beste Monumentalmaler der Gegenwart(…), denn Hodler gehört zu Deutschland wie Gottfried Keller.“

Doch die Begeisterung der Deutschen für Hodlers Kunst konnte schnell in Ablehnung der Person umschlagen. Als der Maler 1914 in Genf eine Protestnote gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims durch die kaiserlichen Truppen unterschrieb, eine „Barbarei“, da waren die Reaktionen unversöhnlich. Secession und Künstlerbund kündigten ihm die Mitgliedschaft, seine Bilder wurden abgehängt, sein für die Universität Jena geschaffenes Wandbild unter Holzverkleidung versteckt. Die Sammler zogen sich zurück. Hodler verstand das nicht, hatte er doch gegen einen Militärakt, nicht die Deutschen protestiert. Seine Rehabilitation sollte er nicht mehr erleben, 1918 starb er in Genf mit 65 Jahren an einem Lungenleiden.

[Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-126, bis 17.1.; Mi bis Mo 10-18 Uhr.]

Auch das ist bei den Recherchen für die Ausstellung in der Berlinischen Galerie herausgekommen: So präsent Hodler in den Kunstmetropolen Europas war, in Paris, Wien, München und insbesondere Berlin, so wenig hat er doch seine Heimatstadt verlassen. Hodler wollte vor allem malen und blieb im Atelier, anders ist seine enorme Produktion nicht zu erklären. Dabei stieß er mit seinen stark konturierten Figuren, dem rauschhaften Rot und explodierenden Grün in den Kleidern seiner tanzenden Frauen, dem überwirklichen Blau seiner Bergseen zu noch etwas anderem vor: einem Ausdruck jenseits des vordergründig Gesehenen. In seinem Nachruf schrieb der Schriftsteller Theodor Däubler „Hodler kann man als einen ersten Expressionisten bezeichnen. Hodler überwand den Farbfleck der Impressionisten.“ In Berlin hatte er den Brücke-Malern den Boden bereitet.