Ich sehe was, was du nicht siehst
Meinungen genießen einen miserablen Ruf. Sie gelten als ahnungslos und beliebig, windig und flatterhaft. Seit Platon die Erkenntnis im „Staat“ zum ersten Mal konsequent gegen die Meinung ausspielte, steht sie im Verdacht, ernsthaftes Wissen zu behindern. Unter ihrem griechischen Begriff, der Doxa, führt sie bis heute ein verachtungswürdiges Leben – unter leicht veränderten Vorzeichen vor allem in der Soziologie von Pierre Bourdieu.
Als das Unhinterfragte einer Gesellschaft konterkariert sie die Würde der Episteme, wie die griechische Bezeichnung für die Erkenntnis lautet. Und zeigt nicht schon die alltägliche Erfahrung, dass auf Meinungen kein Verlass ist?
In seinem Fragment gebliebenen Roman „3000 Jahre unter den Mikroben“, der Fantasie von einer Mikrobe, die sich im Körper eines Landstreichers wiederfindet, fasst Mark Twain die gängige Haltung zusammen: „Jeder von uns weiß alles und weiß, dass er alles weiß – die anderen sind alle dumm und verblendet. Der eine weiß, dass es eine Hölle gibt, der nächste, dass es keine gibt; der eine weiß, dass die Monarchie das Beste ist, der nächste, dass sie es nicht ist; das eine Zeitalter weiß, dass es Hexen gibt, der nächste, dass es keine gibt; die eine Sekte weiß, dass ihre Religion die einzig wahre ist, es gibt 64 500 Millionen Sekten, die wissen, dass es nicht so ist. Doch diese sarkastische Tatsache demütigt weder die Arroganz noch schmälert sie die Besserwisserei. Der Verstand ist eindeutig ein Esel, aber es wird zweifellos noch viele Jahrhunderte dauern, bis er das herausfindet. Warum respektieren wir die Meinung irgendeines Menschen oder einer Mikrobe, die jemals gelebt hat? Ich schwöre, ich weiß es nicht.“ Ironischer Nachsatz: „Warum respektiere ich meine eigene? Nun – das ist etwas anderes.“
Gegen simplifizierende Betrachtungen
Doch sind Meinungen tatsächlich nur Irrtümer auf dem Weg zu einer Wahrheit, zu der man mit etwas weniger Dummheit und Starrsinn direkt vordringen könnte? In einem dichten wissenschaftlichen Essay mit dem Titel „Meinungskrise und Meinungsbildung“ entfaltet der in Koblenz-Landau lehrende Christian Bermes eine „Philosophie der Doxa“, die sich gegen simplifizierende Betrachtungen zur Wehr setzt.
[Christian Bermes: Meinungsbildung und Meinungskrise. Eine Philosophie der Doxa. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022. 122 Seiten, 14 €.]
Aus einer Vielzahl argumentativer Perspektiven, die in einer anthropologischen Deutung kulminieren, verteidigt er die Meinung als ein Spezifikum des vernunftbegabten Tiers, des Menschen. Mit Edmund Husserl, der sich in seinem Spätwerk um eine Rehabilitierung der Doxa bemühte, ist er sich einig: „Alles Leben ist Stellungnehmen.“ Und mit Hans Blumenberg kommt er zu dem Schluss: „Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren.“
Am Ende kommt zwar auch er nicht umhin, der Gegenüberstellung von Tatsachen und Meinungen ein „relatives Recht“ zuzugestehen. Die absolute Unvereinbarkeit bestreitet er jedoch mit guten Gründen: Doxa und Episteme sind sogar aufeinander angewiesen. Den Vorwurf reiner Subjektivität von Meinungen entkräftet er unter anderem mit dem Hinweis auf ihre „Aspektivität“, also das Perspektivische, das in der Summe einen blinden Fleck nach dem anderen auslöscht und sich zu einer mindestens konsensuellen Wahrheit formt. Jeden einzelnen Beitrag dazu nimmt er ernst als Teil eines Prozesses, der tendenziell zum Höheren und Vollständigeren strebt.
Interesse an der Selbstkorrektur
Zugleich zeigt er, dass das nicht voraussetzungslos möglich ist. Seine Verteidigung der Doxa ist eine systematische „Theorie wohlfundierter Meinung“. Vom Geschwurbel, wie es der analytische Philosoph Harry G. Frankfurt in seinem Bestseller „Bullshit“ untersuchte, will er nichts wissen: Als Meinung akzeptiert er nur Urteile, die sich der Logik von wahr oder falsch beugen und daran interessiert sind, sich selbst zu korrigieren.
Darin liegt etwas zutiefst Idealistisches – und ein Zug ins Normative, der diesem jargonfrei klar geschriebenen Essay gegen seinen Willen etwas Kulturkritisches verleiht. Denn er verrichtet sein kühles Begriffsgeschäft in erhitzter Umgebung – wohl nicht ohne Hoffnung, eine zivilisierende Wirkung auszuüben. Mit dem Anthropologen Helmuth Plessner plädiert er, so philosophisch dies gefasst ist, überdies für Takt und Diplomatie im Umgang.
Das Ganze ist das Ergebnis eines Projekts der Volkswagen-Stiftung, das die Frage „Was können Meinungen (noch) bedeuten?“ ausdrücklich „in Zeiten der Meinungsverunsicherung“ zu beantworten versucht. Und so fallen bei Bermes alle aktuellen Stichworte von Fake News und Hate Speech, vom politischen Gewicht der Demoskopie und von den Meinungsgewittern der sozialen Medien. Und dennoch agiert er in einem politisch seltsam luftleeren Raum. Sein Katalog von Merkmalen fundierter Meinung lebt von einem Vertrauen in die Kräfte der Vernunft, zu dem es wenig Anlass gibt.
Rhetorik und Framing
Man muss Bermes dabei gar nicht psychologisch kommen: Das liegt zurecht außerhalb seines Fokus. Doch jenseits der von ihm selbst gestellten Frage, in welchem Maße rhetorische Kniffe, zu denen man auch das Framing zählen könnte, Überzeugungen hervorbringen, gibt es praktische Probleme. Man kann viele Meinungen ihrem objektiven Geltungsanspruch nach als unerheblich oder irrational einstufen. Nur was hält sie davon ab, dennoch Teil von Debatten zu werden?
Und wenn Bermes Meinungen als ein „In-Szene-setzen“ von Hypothesen beschreibt, deren „teilnehmender Erprobung im Rahmen von Aspektivität“ die Revision eingeschrieben sei: Wer garantiert, dass der, der sie erprobt, tatsächlich „Kompetenzaufrüstung“ betreiben will? Wer entscheidet, welche Meinung „von Belang“ und welche nicht satisfaktionsfähig ist? Wer sanktioniert den, der sich trotz schlagender Argumente weigert, von seinem Standpunkt abzurücken?
Bermes setzt viel zu sehr auf einen Begriff von Meinung, der an authentische Äußerungen geknüpft ist. Wer meint etwas aus reiner Originalitätssucht und Distinktionsbedürfnis? Wer meint etwas, weil es nachgefragt ist und sich damit Geld verdienen lässt? Und lässt sich das alles beantworten, ohne auf die technologisch grundlegend veränderte Struktur von Meinungsbildung einzugehen?
Wie steht es um die Kommentarfunktion unter journalistischen Netztexten? Was heißt es, einem Shitstorm ausgesetzt zu sein? Ist das Desinteresse der Tech-Konzerne an Klarnamen im Netz nicht auch der Angst ums Geschäft geschuldet? Bermes selbst schwant, dass man ohne ideologiekritisches Besteck auf diesem Feld verloren ist.
Gekipptes Gleichgewicht
Hinzu kommt, dass die im Modell so schön zu rechtfertigende Balance von Doxa und Episteme längst zugunsten der Doxa gekippt ist. Die pure Quantität hat eine neue Qualität gewonnen. Man kann im Angesicht medialer Pros und Contras vielfach den Eindruck gewinnen, dass jede Entscheidungsfindung neutralisiert wird, indem man beim „In-Szene-setzen“ verharrt und die Illusion nährt, dass sich alles so, aber auch so betrachten lässt.
Man kann den Begriff der Meinung schließlich nicht nobilitieren, ohne denjenigen des Wissens in Ansätzen zu degradieren. So erkenntnishaltig die Doxa ist, so durchsetzt von Interpretationen und Annahmen ist die Episteme. Auch sie ist einem Wandel ausgesetzt, der einerseits – wie in der theoretischen Physik – zu einem komplexen spekulativen Denken geführt hat, das früheren Jahrhunderten fremd war. Andererseits hat er netzinduziert ein unüberschaubar wucherndes „weiches“ Wissens nach sich gezogen: Nie gab es mehr Fun Facts und Nerd-Spezialistentum.
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Bei allen Einwänden ist diese „Philosophie der Doxa“ ungewöhnlich anregend, weil sie gegen den Begriff der bloßen Meinungsfreiheit den der weithin unterschätzten Meinungsbildung so stark macht. Dem zu folgen, erfordert ein hohes Maß an Konzentration, doch schärft das eigene Urteilsvermögen ungemein. Wer möchte sich schon an Georg Christoph Lichtenbergs spöttische Empfehlung halten: „Nichts kann mehr zu einer Seelen-Ruhe beitragen, als wenn man gar keine Meinung hat.“