Ein Planet namens Melancholie

Der Liebe Unglück, der Einsamkeit Fülle – und die leise flehenden Lieder: Der Schauplatz des romantischen Lieds ist der Planet der Melancholie. Was gibt es Schöneres, als sich an einem nieseligen Januartag dorthin entführen zu lassen. Wehmut tut manchmal gut, zumal wenn sie von Franz Schubert zu dramatischen Kleinoden veredelt wird.

Fortsetzung eines Mammut-Projekts im Pierre Boulez Saal, in dessen Verlauf sämtliche Schubert-Lieder (mehr als 600) mindestens einmal hier erklingen sollen, und zahlreiche Gesangswerke seiner Zeitgenossen dazu. Nach dem Startschuss mit Thomas Hampsons Schubert-Wochenende 2018 geht das Vorhaben in Kooperation mit der Lied-Akademie des Heidelberger Frühlings und der Hampson Foundation nun in die fünfte Saison.

Alleine 2021, so erzählt es der amerikanische Starbariton beim Auftaktkonzert am Montag, seien hier an neun Abenden über 160 Lieder erklungen. Nicht wenige wurden von Nachwuchs-Sängerinnen und -Sängern vorgetragen – pandemiebedingt allerdings nur per Livestreams vor leeren Reihen.

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Dieses Jahr nun also wieder real, vor geboostertem Publikum: Bis Sonntag werden in der von Hampson kuratierten Reihe Lieder von Schubert, Mendelssohn, Fanny Hensel, Carl Loewe, Salieri, Carl Friedrich Zelter und weiteren Vertretern der zweiten Berliner Liederschule erklingen, gesungen von Stars ihres Fachs wie Christiane Karg, von aufstrebenden Solistinnen und Meisterschülern.

Und den Anfang macht der Meister persönlich, gemeinsam mit seinem langjährigen Liedbegleiter Wolfram Rieger, dessen Spiel sich durch exquisite Zurückhaltung auszeichnet, aber auch durch expressive Seelenlandschaftsmalereien und perlende Naturidyllen, wenn die Partitur es verlangt.

Als schlichtes, monochromes Strophenlied spricht „Der Musensohn“ von Johann Friedrich Reichardt zwar bereits die Sprache der Empfindsamkeit, lässt die gefühlsweltumspannende Fülle von Beethovens Zyklus „An die Ferne Geliebte“ oder Schuberts „Einsamkeit“ am Ende des Abends aber erst erahnen.

[Die öffentlichen Lied-Workshops mit Thomas Hampson am 28. und 29. Januar, jeweils um 15 Uhr, werden live per Videostream gezeigt, u.a. auf boulezsaal.de].

Konvention und kühne Aneignung, Ursprung und Vollendung – Hampson spannt einen weiten Bogen. Wobei sein Gesang selber den Bogen vermissen lässt, jenen Legato-Schmelz, für den er berühmt ist. Bei Goethes Versen im Zelter-Lied an die ersehnte Geliebte holt der Kammersänger gleichsam jede Silbe aus sich hervor, ziseliert jeden Ton. Die Achtsamkeit gegenüber den Nuancen bekommt etwas Kurzatmiges. Das verschmitzte Parlando in Beethovens Natur-Anrufungen liegt Hampson mehr als der dramatische Überschwang in hoher Lage. Die Stimme wirkt mitunter angestrengt, lässt bei voller Lautstärke Volumen und Tiefe vermissen. In Schuberts „Schwanengesang“ bricht sie ihm gar, beim tiefen h am Ende der ersten und zweiten Strophe von „In der Ferne“.

Wie schwer doch der Balanceakt sein kann, die hohe Kunst der Einfachheit nicht ins Flache, das Behutsame nicht ins Schwächelnde kippen zu lassen. Thomas Hampsons Verdienste als Sänger, Kurator, Lehrer und unermüdlicher Botschafter für das Lied sind immens, in seinen Radio-Reihen über das „Lied im Spiegel seiner Zeit“, in Kursen, auf CDs und Podien. Aber um seine Stimme ist einem bang an diesem Abend.