I like to be in America
Er war eine Ausnahmeerscheinung, als Komponist wie Textdichter ein Doppeltbegabter, in jeder Hinsicht untypisch für das amerikanische Musical – und doch hat er dieses Genre geprägt wie kaum ein anderer. Für Stephen Sondheim zählte die Innovation stets mehr als der kommerzielle Erfolg. Denn er wollte die Kunstform voranbringen, der er seit Kindertagen verfallen war.
Mit dieser Haltung – und mit seiner Verwurzelung in der europäischen Kulturgeschichte – wurde er zum „artist’s artist“, zu einem Künstler, der Künstler inspirierte, während sich das breite Publikum oft von seinen inhaltlich wie musikalisch anspruchsvollen Stücken oft überfordert fühlte.
1930 in New York geboren, wuchs Sondheim auf einer Farm in Pennsylvania auf. Weil der Sohn des Musical-Librettisten Oscar Hammerstein („Show Boat“, „Oklahoma“, „The Sound of Music“) sein Klassenkamerad war, bekam er die Gelegenheit, schon als Teenager mit dem legendären Profi zu arbeiten.
1956 durfte Stephen Sondheim dann seine ersten eigenen Songtexte für eine Broadway-Produktion liefern: Es war Leonard Bernsteins „West Side Story“. Titel wie „America“, „Somewhere“, „Maria“ und „I feel pretty“ wurden zu Ikonen der populären amerikanischen Musik, mit Bernsteins Melodien und Sondheims Worten.
Nach Art von Woody Allen porträtierte er urbane Neurotiker
1962 gab der Produzent Harold Price Sondheim dann die Chance, ein erstes selbst komponiertes Stück herauszubringen: „Zustände wie im alten Rom“ schlägt gedanklich den Bogen vom antiken Dichter Plautus zur zeitgenössischen amerikanischen Burleske. In Berlin wurde Ilja Richter 1997 in der Rolle des cleveren Sklaven Pseudolus im Theater des Westens gefeiert.
Gleich im nächsten Stück „Anyone can whistle“ aber ironisierte Sondheim die Stereotype der Musical Comedy, mit der er gerade Erfolg gehabt hatte – und stieß die Kritiker vor den Kopf. Doch er wollte nun einmal nicht in irgendeiner Stil- Schublade verschwinden.
Es dauerte sechs Jahre, bis er seine nächste Chance am Broadway bekam: In „Company“ porträtiert er Großstadtneurotiker nach Art von Woody Allen. Endgültig in ernstere Kunstbereiche stieß Sondheim dann 1979 mit „Sweeney Todd“ vor.
Gipfel der Avantgarde: Sunday in the Park with George
Hier kreuzte er nicht nur eine viktorianische Schauerballade über einen Serienkiller mit der sozialkritischen Sicht auf das Industriezeitalter, sondern verabschiedete sich von der üblichen Nummernfolge der Musical-Songs zugunsten eines durchkomponierten Musiktheaters.
„Sweeny Todd“ entwickelte sich zum ersten Sondheim- Opus, das in Opernhäuern gespielt wird, mit der Inszenierung an der Komischen Oper Berlin begann 2004 der Siegeszug der Schauspielerin Dagmar Manzels an dem Haus. Auch „Into the Woods”, Sondheims freie Fantasie über die Märchen der Brüder Grimm, wird heute vor allem an staatlich geförderten Bühnen gezeigt.
Den Gipfel der Avantgarde erreichte Sondheim schließlich 1984 mit „Sunday in the Park with George“. Im ersten Akt macht er aus einem Gemälde des französischen Pointillisten Seurat von 1885 ein „lebendiges Bild“, im zweiten Akt, der 100 Jahre später spielt, zeichnet er ein satirisches Bild der New Yorker Kunstszene.
Wenig überraschend ging die Show bei den „Tony Awards“ für Musicals fast leer aus, erhielt aber mit dem „Pulitzer Price for Drama“ eine renommierte Literatur-Auszeichnung.
Bis zuletzt blieb Stephen Sondheim ein Fixstern für alle, die sich kreativ für die Zukunft der lebendigen Kunstform Musical engagieren. Im Alter von 91 Jahren ist er jetzt in seinem Landhaus in Connecticut gestorben.