Kolumne „Mehrwert“, Folge 21: Überwältigung verboten

Regeln oder Gängelung, Kunstfreiheit oder moralische Leitlinien? Seit Joe Chialos Antidiskriminierungsklausel wird in verschärftem Maß darüber gestritten. Eine mühsame, aber notwendige Auseinandersetzung, denn jede weitere Lagerbildung schadet auch der Kunst und Kultur.  

Vertragt euch doch bitte? Das wäre naiv angesichts der Zunahme antisemitischer Vorfälle und „Remigrations“- Bestrebungen der extremen Rechten. Aber wer gegen safe spaces weniger polemisieren möchte, als die Sehnsucht danach ernst zu nehmen, kommt nicht umhin, über Codes of Conduct nachzudenken. Darüber, was eine Kultur- oder Bildungseinrichtung oder ein Projekt als unverhandelbare Grundlage für die gemeinsame Arbeit ansieht.

Wie wäre es mit dem „Beutelsbacher Konsens“? In den Gesprächen zur umstrittenen Klausel des Berliner Kultursenators tauchte sie öfter auf, diese eher wenig bekannte, bald 60 Jahre alte Leitlinie eines fairen Umgangs miteinander. Sie stammt nicht aus der Kulturszene, sondern aus der politischen Bildung und nennt als ersten Grundsatz das „Überwältigungsverbot“. Es besagt, dass kein Lehrender seinen Schüler:innen eine Meinung einfach aufbrummen und damit an der „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ hindern darf.

Indoktrination gilt es zu vermeiden. Deshalb empfiehlt der „Beutelsbacher Konsens“ außerdem das „Kontroversitätsgebot“. Was in der Politik und der Wissenschaft kontrovers ist, muss auch als kontrovers dargelegt werden. Das heißt, Alternativen zur eigenen Haltung und die Standpunkte Andersdenkender müssen nicht nur kurz erörtert, sondern ausführlich nahegebracht werden. Erst dann kann – der dritte Grundsatz – nach konkreten Wegen gesucht werden, wie man eine Lage im eigenen Interesse beeinflussen kann.

Erst streiten, dann handeln. Das wäre eine gute Devise bei den Disputen über BDS, „Strike Germany“ und die roten Linien von Antisemitismus und Menschenverachtung. Auch beim Dialogprozess, den Joe Chialo in Berlin jetzt angeschoben hat, bei den ressort- und parteiübergreifenden Verhandlungen und den Gesprächen mit Kulturschaffenden. Und sei es, dass es auf den Minimalkonsens „We agree to disagree“ hinausläuft.

Nicht dass sich der seinerseits aus einem erbitterten Nach-68er-Theorienstreit destillierte Konsens ohne Weiteres auf die aktuellen Kulturkämpfe übertragen ließe, ob es nun um Antisemitismus, Kolonialismus oder Wokeness geht. Aber mehr Streitkultur, mit Betonung auf Kultur, könnte die Fronten aufweichen, indem wir einander weniger mit Vorwürfen, Überzeugungen und Ideologien beschießen, als dass wir die Gegenseite mit Argumenten für uns einzunehmen versuchen.

Von Beutekunst bis Antidiskriminierung, wir brauchen mehr Beutelsbach. Der lustige Name verdankt sich übrigens einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg von 1976 in Beutelsbach, einem Stadtteil von Weinstadt in Schwaben. Es muss da hoch hergegangen sein.    

Christiane Peitz schreibt in dieser Kolumne regelmäßig über Freiheit, Diskriminierung und Grundwerte.