Null Toleranz für Stillstand
Schnell Rennen und schnell Reden, manchmal auch beides gleichzeitig, sind die Hauptbeschäftigungen von Anaïs. Mit einem großen Blumenstrauß stürmt sie aus einem Laden ins erste Bild und mitten in den Film hinein, hetzt nach Hause und rast die Treppe in kleinen, irre schnellen Schritten fünf Stockwerke hoch, den Wohnungsschlüssel schon in der Hand. Zu ihrer Verabredung ist sie trotzdem zu spät.
Während sich Anaïs (Anaïs Demoustier) in Windeseile für eine Geburtstagsfeier umzieht, quatscht sie die Vermieterin, die mit einem Rauchmelder und der Ermahnung ihrer Mietschulden gekommen ist, im Stakkato zu: über ihren fehlenden Job, ihren Freund, der gerade ausgezogen ist, und ihre ganz allgemeinen Zweifel an der Liebe und dem Zusammenleben. Zwischendrin reißt sie mehrfach am Arm der verdatterten Frau, um einen Blick auf deren Armbanduhr zu werfen, und ist mit den Blumen schon wieder raus aus der Tür.
Anaïs ist eine chaotisch Getriebene. Gestresst von der Vergänglichkeit des Augenblicks bringt sie nie etwas zum Abschluss. Ihre Dissertation über die Liebesliteratur des 17. Jahrhunderts ist auf halber Strecke liegen geblieben, die Beziehung mit einem vernunftgesteuerten jungen Mann hat sich mit dem Aufkommen erster Unstimmigkeiten bald erledigt – und dann steckt sie noch in Geldschwierigkeiten. Sie habe Angst, als Molluske zu enden, sagt Anaïs, die einmal wenig schmeichelhaft mit einem „Bulldozer“ verglichen wird. Gleichzeitig trägt die Dreißigjährige noch immer das inzwischen viel zu kleine Blumenkleid, das sie schon mit siebzehn besaß.
Aus einem reinen Impuls heraus stürzt sich Anaïs in eine Affäre mit dem älteren Buchverleger Daniel (Denis Podalydès). Seine Anziehungskraft scheint für sie bald hauptsächlich in seiner Nähe zu der abwesenden Lebensgefährtin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi) zu bestehen. Anaïs betrachtet wie magnetisiert ein Porträtfoto der bekannten Schriftstellerin, schnuppert an ihren Cremes, liest ihre Bücher, schaut sich Interviews an und überfällt sie auf der Straße mit einem Redeschwall. Überzeugt davon, mit der viel älteren Frau mehr gemeinsam zu haben als das Interesse für Marguerite Duras, folgt sie ihr schließlich auf ein fünftägiges Kolloquium ins pittoreske Château de Kerduel in der Bretagne.
Obsession Liebe
Charline Bourgeois-Tacquet trat als Nebendarstellerin in einer Handvoll Filmen auf, bevor sie anfing, selbst Regie zu führen. Bereits ihr Kurzfilm „Pauline asservie“ (2018) beschäftigte sich mit einer obsessiven Liebe. Ihr Langfilmdebüt „Der Sommer mit Anaïs“, das vergangenes Jahr eine Einladung in die Semaine de la Critique nach Cannes bekam, setzt dieses Thema fort, erneut in Zusammenarbeit mit ihrer Hauptdarstellerin Anaïs Demoustier.
Demoustier, die seit ihrer Entdeckung durch Michael Haneke für „Wolfzeit“ in fast achtzig Filmen zu sehen war, ohne ein Star zu werden – trotz des großartigen „Bird People“ von Pascale Ferran –, ist das energetische Zentrum. Ihre agile, quirlige Körperlichkeit paart sich mit einem sprudelnden Sprachtempo, das an die neurotischen Charaktere aus Woody Allens Komödien erinnert.
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Mehr noch aber ist „Der Sommer mit Anaïs“ ein Action-Film nach dem Vorbild von Claude Sautet und Maurice Pialat. Bewegung und Rhythmus sind die treibenden Kräfte, Kameramann Noé Bach hat viele Szenen in Plansequenzen gedreht. Dabei verbindet Bourgeois-Tacquet den vorwärtstreibenden Elan mit der satten, sinnlichen Bildsprache eines eher gediegenen französischen Kinos.
(In den Berliner Kinos Bundesplatz, Delphi, Delphi Lux, Filmtheater Friedrichshain, Kulturbrauerei, Babylon Kreuzberg, Central, Moviemento, auch OmU)
Die Regisseurin hält den Ton stets leicht und fluffig, Anaïs’ Macken sind keine Dysfunktionalitäten wie sie etwa die US-amerikanischen Komödien einer Greta Gerwig entwerfen. Vom umtriebigen Paris bewegt sich der Film über Anaïs’ Kindheitsort (die schmerzhafte Konfrontation mit der Krebserkrankung ihrer Mutter hat einen etwas ernsthafteren Klang) ans Meer.
Emilie, die gerade an einem Essay über die Neugierde arbeitet, zeigt sich von dem ungestümen Wesen ihrer leicht fanatischen Anhängerin verzaubert. Sie lässt sich verführen und erobern – um sich dann, erfrischt vom erotischen Abenteuer, wieder an den Schreibtisch zu setzen. Kurz sieht es so aus, als wolle die Regisseurin durch Emilie ihrer Protagonistin eine Lektion erteilen, ihr ein bisschen die Flausen austreiben, sie auf den Weg der Realität führen. Nicht mit Anaïs. Ihr letzter Satz sitzt. „Das akzeptiere ich nicht.“